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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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erstreckte. Dazwischen lagen immer wieder Teiche voller weißer und rosafarbener Seerosen. Gleich rechts von ihm floss ein breiter Fluss, das Wasser glitzerte im strahlenden Licht. An seinen Ufern wuchsen Palmen, und im Papyrussumpf zu ihren Wurzeln standen alle Arten von Reihern und pickten majestätisch zwischen den wogenden Wedeln. Als er wagte, den Kopf nach links zu drehen, entdeckte er ein kleines weiß getünchtes Haus in einem Sykomorenhain, und ganz hinten konnte er vor dem wolkenlosen Himmel eine Reihe von hellbeigen Hügeln erkennen. All dies durchfuhr seine Sinne in einem Wirbel von Farben und Formen, doch die Verwirrung hielt nur kurz an, denn er atmete einen köstlichen Duft ein, den er kannte, aber nicht einordnen konnte. Er schien aus den Blüten im Obstgarten seines Onkels, dem Honig, den seine Mutter aus den Bienenkörben auf den Parfümfeldern sammelte, sowie einem winzigen Hauch Knoblauch zu bestehen. Während er in seinem Gedächtnis kramte, erblickte er den Baum. Er hätte schwören können, dass er vorher nicht da gewesen war. Doch jetzt erhob er sich mit weit ausladenden Ästen vor ihm, und das Laub bildete einen gewaltigen Baldachin. Sein Duft drang in ihn ein, bis er das Gefühl hatte, sein Blut sei davon erfüllt. Und dann erinnerte er sich sowohl an den Namen des Baumes als auch daran, wo er ihn gesehen hatte. Es war der Isched-Baum.
    Darunter saß ein Mann im Schneidersitz und hatte den Rücken gegen den knorrigen Stamm gelehnt. Er war locker in weißes Leinen gehüllt, und auf seinen Knien lag eine geöffnete Papyrusrolle. Im Gras neben ihm standen Papyrussandalen, ein silberner Becher mit einer leuchtend roten Flüssigkeit und eine Schreiberpalette. Zu Huys Entsetzen saß nicht weit entfernt eine Hyäne aufgerichtet auf ihren knochigen Hinterläufen. Sie blinzelte faul in der Sonne, ihre flache Schnauze zeigte auf den Mann, und die Haarbüschel an den Ohren und auf dem kräftigen Rücken glänzten. Sie schien weder auf Beute aus zu sein, noch auf irgendetwas anderes zu lauern; sie beobachtete einfach den Mann und verströmte dabei große Zufriedenheit. Ob sie Huys Anwesenheit bemerkt hatte, war nicht zu erkennen.
    Huy wagte nicht, sich zu bewegen. Lange Zeit stand er still, und sein Blick wanderte zwischen dem Mann, der Bestie und dem Haus hin und her, kehrte jedoch immer wieder zu dem üppigen Baum zurück. Endlich sagte der Mann, ohne von dem Papyrus aufzusehen: »Komm näher, Huy, Sohn des Hapu.«
    Huy trat zögerlich einen Schritt vor und flüsterte: »Wo bin ich?«
    »In Ägypten, natürlich«, kam die Antwort. Der Papyrus raschelte leise, als der Mann die Rolle weiter öffnete. Die Hyäne gähnte, sodass Huy einen Moment lang ihre scharfen elfenbeinfarbenen Zähne erkennen konnte, und legte sich dann, mit dem Kopf auf den Vorderpfoten, ganz auf den Boden.
    Huy traute sich einen weiteren Schritt vor. »Bin ich … bin ich tot?«
    Jetzt erst sah der Mann auf und lächelte mit hochgezogenen Brauen. Er hatte ein schmales Gesicht mit markanten Wangenknochen und humorvollen braunen Augen. Irgendwie kam er Huy bekannt vor. »Vielleicht«, sagte der Mann sanft. »Aber vielleicht träumst du auch nur. Dreh dich herum.«
    Langsam und angespannt tat Huy, wie ihm geheißen. Da war kein Platz mehr mit nassen Fußspuren und auch kein See, sondern nur eine riesige, düstere Halle, deren Decke sich im Schatten verlor. Mitten auf dem mit Lapislazuli gepflasterten Boden befand sich eine große goldene Balkenwaage; die beiden Schalen waren leer. Daneben stand eine Frau, die hohlen Hände nach oben gedreht, als ob sie darauf wartete, etwas zu bekommen. Die schweren goldenen Reifen an ihren zierlichen Handgelenken verbreiteten einen schwachen Schimmer, und hinten an ihrem goldenen Stirnreif bewegten sich zwei hohe Federn leicht in einem Lufthauch, den Huy nicht spürte.
    Huy hielt den Atem an. Er hatte nie zuvor derartige Schönheit und Gelassenheit auf einem menschlichen Antlitz gesehen. Aber sie ist kein Mensch, dachte er, und Angst überkam ihn. Ich starre hier die Göttin Maat selbst an. Sie hat die Symbole für die göttliche und weltliche Ordnung an ihrem Diadem, und sie wartet darauf, ein Herz auf die Waagschale zu legen, ein Urteil zu fällen. Unwillkürlich fasste er an seine Brust. Die Schalen sind leer. Bin ich schon gewogen worden?
    Im Schatten hinter der Göttin bewegte sich etwas. Sie lächelte, drehte sich von Huy weg und streckte ihre mit hauchdünnem Tuch bekleideten Arme der Kreatur

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