Der Seher des Pharao
entgegen, die soeben herankam: der muskulöse, schwarze Körper eines Mannes, gekleidet in einen aus Goldfäden gewebten Schurz, und der Kopf eines Schakals, mit großen schwarzen Ohren und einer langen Schnauze. Die glänzenden schwarzen Tieraugen waren mit goldenem Kajal nachgezogen, in der einen menschlichen Hand trug die Gestalt ein Anch-Zeichen, in der anderen ein Zepter mit einem winzigen Schakalkopf an der Spitze. Kein Mensch! Kein Mensch!, dachte Huy außer sich. Anubis, der Gott der Totenriten. Sennefers Wurfholz hat mich getötet. Ich bin schon einbalsamiert und ins Grab gelegt worden, aber ich kann mich nicht erinnern, wie ich an der Hand von Anubis durch die Halle der beiden Wahrheiten gegangen bin oder wie mein Herz auf die Waagschale gelegt und gegen die Feder der Maat aufgewogen wurde. Anubis blickte Huy direkt ins Gesicht, die Lefzen über den furchteinflößenden Fängen zu etwas hochgezogen, das ebenso ein wildes Grinsen wie ein warmes Lächeln sein konnte. Den Arm mit dem Anch-Zeichen hatte er um die Schulter der Göttin gelegt, sodass es jetzt vor ihrer Brust hing.
»Warum hast du Angst?«, ertönte die ruhige Stimme des Mannes hinter Huy. »Anubis tut niemandem ein Leid. Er hofft, dass die Waage bei jedem Menschen im Gleichgewicht ist. Fürchten musst du die Göttin, die ins Herz schaut und sieht, wenn die Harmonie der Maat gestört ist. Komm her.«
Dankbar wandte sich Huy von dem düsteren Ort ab. Sofort umfingen ihn wieder der Duft des Isched-Baums, der Gesang der Vögel und das fröhliche Blau des Himmels. Als er zu dem Baum ging, spürte er, wie sich eine Leinentunika um seinen Körper legte. Er war nicht mehr nackt. »Setz dich neben mich«, fuhr der Mann fort. Huy gehorchte, sank in das üppige Gras und berührte dabei absichtlich die raue Rinde das Baumes. Der Mann lachte. »Es ist dir nicht mehr verboten, den Isched-Baum zu berühren. Im Gegenteil, wenn du willst, kannst du auch seine Frucht probieren.«
Huy blickte sich um. Nirgendwo auf der Erde lag etwas Fruchtähnliches. »Aber ich sehe keine. Wo ist sie?«, fragte er und betrachtete prüfend das Gesicht, das er ganz gewiss schon einmal gesehen hatte. »Und wer bist du, Meister?«
Der Mann tippte auf die Papyrusrolle. »Dies hier ist sie natürlich. Dies ist das Buch Thot, und mein Name ist Imhotep.«
Huy verschlug es den Atem. Er warf sich auf die Knie und drückte seine Stirn auf den Fuß das Mannes. Warm und lebendig saß vor ihm der Gott, der vor vielen Hentis das mächtige Grabmal des Osiris-Gleichen Netjeri-chet Djoser gebaut hatte, der als Heiler verehrt wurde und der größte Seher war, der je in Ägypten das Licht der Welt erblickt hatte. Überall im Land fanden sich Heiligtümer, wo seine großen und kleinen Statuen, grob oder fein gearbeitet, die Bittsteller überlegen und geheimnisvoll anlächelten.
»Also bin ich tot, und dies ist das Osiris-Paradies!«, rief Huy.
Imhotep bedeutete ihm aufzustehen. »Vielleicht. Vielleicht«, wiederholte er, »junger Huy, haben die Götter dir in ihrer unergründlichen Weisheit einen frühen Tod bestimmt. Ich weiß nur, dass ich dir diese Frage stellen soll: Willst du die Frucht des heiligen Isched-Baumes kosten?« Er hob die Arme, der Papyrus rollte sich zusammen und fiel in die Falten seines Leintuchs.
Huy blinzelte die Rolle verwundert an. »Das Buch Thot ist die Frucht des Baumes? Aber der Re-Oberpriester hat mir doch erzählt, dass er die Früchte jedes Jahr sammelt und verbrennt, also kann es kein Buch sein. Und überhaupt, enthält das Buch Thot nicht nur zwei Beschwörungen, eine zur Wiederbelebung von Toten, und eine, um die Sprache der Tiere verstehen zu können? Und liegt es nicht tief unter der Erde im Grab eines unbekannten Zauberers? Viele Geisterbeschwörer haben doch danach gesucht.«
Imhotep schüttelte den Kopf. »Jenes Buch gibt es nicht. Das ist eine Geschichte, eine Sage. Im Ägypten der Lebenden symbolisiert der Isched-Baum das Wissen aller Wahrheiten, der himmlischen wie der irdischen. Dieses Wissen hat der große Gott Atum vor der Erschaffung der Welt Thot diktiert, und Thot hat es aufgeschrieben. Im Ägypten der Toten hat es diese Form bewahrt.« Er legte die Schriftrolle ehrfürchtig auf seine gewölbten Hände und streckte sie Huy hin. Die Geste ähnelte so sehr der von Maat im Dämmerlicht der Halle der beiden Wahrheiten, dass Huy zurückschreckte.
»Ich verstehe nicht«, sagte er zaudernd.
Imhotep betrachtete ihn ruhig. »Doch, das tust du. Es ist
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