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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Junge gewesen, vielleicht ein Zwilling, der bei Hapu und Itu gelebt hatte, zur Schule gegangen war, auf einer ähnlichen Barke neben Ker gestanden hatte und all die Dinge getan hatte, die er, wie sie sagten, getan hatte, während er selbst, der wahre Huy, unsichtbar war und sein anderes Ich von einem ewig gleich bleibenden Reich aus beobachtete. Das Gefühl, neben sich zu stehen, war unangenehm. Daher war er froh, als Naschas ausgiebiges Gähnen den Abend zum Ende brachte.
    Thutmosis und er teilten sich ein Zelt, und bis sie ihre Betten aufgeschlagen, sich ausgezogen und die Decken über sich gezogen hatten, fühlte sich Huy nicht mehr wie sein eigener Doppelgänger. Die beiden Freunde sprachen nicht mehr viel. Die frische Luft am Fluss und das gute Essen hatten sie müde gemacht, und so dauerte es nicht lange, bis Thutmosis einschlief. Huy lag noch eine Weile auf dem Rücken und betrachtete die Schatten unter dem Zeltdach. Er dachte an Anuket, überlegte, wie es sein würde, wieder in seiner Kammer zu sein, ob seine Klassenkameraden ihn willkommen heißen oder ob sie den Gerüchten Glauben schenken und ihm mit Misstrauen begegnen würden. Bei Thutmosis, Nascha und Nacht fühlte er sich weniger einsam als bei seiner eigenen Familie, trotzdem verspürte er plötzlich das Verlangen, die Rechet Henenu zu sehen.
    Als die Türme und Pylone von Iunu im weißen Mittagslicht auftauchten, war das für ihn so aufregend, als hätte er die Stadt nie zuvor gesehen. Doch jetzt konnte er all die Wahrzeichen benennen: Hinter der doppelten Ziegelmauer erhob sich der aus Rosengranit gefertigte Obelisk von Osiris Sesostris III., südöstlich waren die Gräber der Oberpriester zu sehen, dann kamen die viel neueren Stelen, die der gegenwärtige Horus aufstellen ließ, und vor allem lagen die langgestreckten Anlegestufen mit ihrem geschäftigen Treiben.
    »Huy, wach auf!«, rief ihm Thutmosis ins Ohr. »Die Landestege sind ausgelegt. Wir müssen für den Weg zum Tempel Sänften nehmen, diese Schiffe sind zu groß für den Kanal. Wovon hast du geträumt?«
    Die Träger warteten schon. Neben einem der Männer entdeckte Huy seine Beutel, und Nacht und Nascha bestiegen bereits ihre Sänfte. Er eilte ans Ufer, um sich von ihnen zu verabschieden. »Ich danke dir, Fürst, für deine Güte«, sagte er, beugte sich herunter und ergriff die dargebotene Hand. »Ich verdanke dir und Thutmosis sehr viel.«
    »Mir verdankst du auch etwas«, mischte sich Nascha ein und lehnte sich über ihren Vater. »Hätte ich dem Betteln von Thutmosis nicht mein weibliches Bohren hinzugefügt, hättest du diese Reise ohne unsere anregende Gesellschaft machen müssen. Bis zum nächsten Feiertag, Huy.«
    Er nickte. »Dir kann niemand widerstehen, Nascha. Grüß Anuket von mir. Und halte dich von der Straße der Korbmacher fern.« Das hatte er eigentlich nicht sagen wollen, doch es war ihm unwillkürlich herausgerutscht.
    Naschas Miene verdüsterte sich. »Das war also kein dummer Scherz, Huy?«, murmelte sie. »Ich werde mich an deinen Rat halten, vorausgesetzt, du erklärst mir die ganze Sache, wenn du uns das nächste Mal besuchst.«
    Nacht sah sie irritiert und verärgert an. »Ich habe keine Zeit für eure geheimen Spielchen«, sagte er unwirsch. »Nascha, Huy, verabschiedet euch, damit wir nach Hause kommen. Thutmosis, ich erwarte, dass die Berichte über deine Fortschritte weiterhin positiv sind.« Er gab den Trägern ein Zeichen.
    »Das verspreche ich, Nascha!«, rief Huy als die Sänfte angehoben wurde.
    »Oh, Huy!«, sagte Thutmosis aufgebracht, als sie in ihre Sänfte stiegen. »Warum hast du sie daran erinnert? Sie hatte es doch längst vergessen!«
    »Es ist mir rausgerutscht«, erklärte Huy. »Andererseits bist du nicht oft genug zu Hause, um sie zu beschützen.«
    Thutmosis antwortete nicht darauf.
    Sie verließen die Sänfte am Tempelkanal und gingen zu Fuß mit ihrem Gepäck an seinem Ufer entlang. Es hat sich nichts verändert, dachte Huy und betrachtete die mächtige Steinfassade von Res Haus. Alles ist so schön und friedlich wie immer. Doch als sie an die Stelle kamen, wo sich der Kanal zum See weitete, wich er dem Wasser aus und wollte nicht hineinsehen. Ich bin hier gestorben, sagte er zu sich selbst. Hörst du, Methen, ich befolge deinen Rat. Ich werde es nicht vergessen.
    Als hätte er Huys inneren Monolog hören können, blieb Thutmosis stehen. »Ich mag auch nicht daran denken«, sagte er leise, »aber die Erinnerungen verblassen nicht.

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