Der Seher des Pharao
und deine Zehen in den Sumpf setzen, den meine Familie darstellt! Das wäre angesichts deines beklagenswerten Mangels an echter Bescheidenheit sicher gut!«
Huy brach in Gelächter aus, während er versuchte, den Siegelring zu den Amuletten an seine linke Hand zu stecken. »Er ist mir zu groß. Wenn ich ihn verliere, reichen ein paar leichte Schläge mit der Rute nicht.«
»Such dir ein Lederband, dann kannst du ihn um den Hals tragen«, schlug Thutmosis vor.
Nacht schickte eine Sänfte, und die beiden Jungen verließen den Tempelbezirk über die drei Feiertage. Huy war darüber sehr erleichtert, denn der Siegelring war nur der materielle Ausdruck dessen, was er in den Augen der Priester las, ebenso im intelligenten Gesicht seines Schulleiters wie in den wachsamen Blicken der Diener. Selbst Pabast schien ihm gegenüber noch schweigsamer und vorsichtiger als sonst, wenn er in die Kammer kam, um Thutmosis zu rasieren.
Die Klassenkameraden behandelten Huy jedoch nicht anders. Und auch nicht seine Lehrer. Huy wurde getadelt, wenn er beim Diktat einen Fehler machte, angeknurrt, wenn er bei einer schwierigen Passage in den Weisheiten des Amenemope, die er und seine Freunde immer noch mit kaum verhohlener Langeweile bearbeiteten, ins Stolpern geriet, angeschrien, wenn seine Fortschritte bei der körperlichen Ertüchtigung dem Armeeoffizier zu gering erschienen. Und doch befand sich auch hinter der scheinbaren Normalität eine unsichtbare Mauer aus – was? Ehrfurcht? Neugier? Furcht? Oder war all das die Einbildung, die einen sowieso arroganten Ka aufblähte? Wenn Huy darüber nachdachte, hatte er manchmal das Gefühl, als würde sich ein Gewicht auf seine Brust legen.
Auf Nachts großem, ruhigen Anwesen war er so willkommen wie immer. Für die Festtage hatte sich die ganze Familie versammelt, auch Meri-Hathor war mit ihrem Mann gekommen, einem freundlichen Zeitgenossen, dem es zu genügen schien, im Gras zu liegen und schläfrig zu lächeln, während die Unterhaltung über in hinwegbrandete. Als Huy sich vor Nacht verbeugte, überlegte er, ob er sich bei dem Fürsten dafür bedanken sollte, dass er Sennefer das Wurfholz für alle Zeiten aus der Hand genommen hatte, entschied sich dann aber dagegen, weil es nicht klingen sollte, als wolle er Ansprüche stellen. Thutmosis’ Mutter küsste ihn herzlich auf beide Wangen.
Nascha brachte ihm einen Becher Wein und zwickte ihn sanft in die Nase. »Ich habe mich von der Straße der Korbmacher ferngehalten«, verkündete sie laut. »Vater hat mit dem Re-Oberpriester über dich gesprochen. Anscheinend hast du eine gewisse Fähigkeit entwickelt, in die Zukunft der Leute zu blicken. Oh, jetzt schau nicht so düster drein«, schalt sie. »Seher oder nicht, für mich bleibst du der freche Huy. Trink Wein, iss etwas Konfekt, genieß die Tage hier. Morgen haben wir ein Fest am Fluss. Anuket sitzt noch an den Girlanden.«
Huy wandte sich an Nacht. »Kann ich zu ihr gehen?«
Nacht nickte. »Sie ist im Kräuterzimmer. Sag ihr, sie soll herkommen und uns Gesellschaft leisten.« Nascha flüsterte ihrer Schwester etwas zu, woraufhin Meri-Hathor breit lächelte, aber Huy bemerkte es nicht, weil er schon auf dem Weg ins Haus war.
Das Kräuterzimmer hatte keine Tür, und so konnte Huy bereits in dem langen Gang, der zur Rückseite des Hause führte, eine Mischung aus Thymian, Minze, Dill und anderen Kräutern riechen, zu der sich die schweren Düfte der Blumen gesellten, die Anuket bei ihrer Lieblingsbeschäftigung verwendete. Sie saß umgeben von Zweigen und Blättern im Schneidersitz auf dem Boden und war gerade dabei, mit ruhiger Hand die Stiele von zwei weißen Lilien miteinander zu verflechten. Sie sah erst auf, als sich Huy vor sie hinkauerte. »Huy. Ich wusste, dass du das bist. Ich habe dich am Schritt erkannt.« Sie lächelte leicht, und ihre dunklen Augen suchten sein Gesicht ab. »Es ist lange her. Bist du jetzt gesund?«
Huy konnte nicht anders, er legte eine Hand an ihre glatte Wange. »Anuket«, sagte er heiser, »ich habe dich sehr vermisst. Ja, ich bin gesund, aber als ich krank im Bett lag, waren meine Gedanken immer bei dir.«
Sie wich nicht aus, lehnte sich aber auch nicht gegen seine Hand. »Also bist du unversehrt in die Schule und zu uns zurückgekehrt. Dafür danke ich den Göttern.«
Sie blickte weiter in seine Augen, aber Huy konnte nicht erkennen, welche Gefühle sie dabei hatte. Ihre Worte waren warm und höflich, doch da war eine plötzliche Spannung in
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