Der Seher des Pharao
auch. Ich bin froh, dass ich nie woanders leben muss. Doch mir wird kalt, Huy. Sollen wir uns am Ufer ein Feuer machen? Ich kann Vaters Wächter an den Anlegestufen bitten, uns dabei zu helfen. Die Gäste werden bald aufbrechen, deshalb sollten wir außer Sichtweite der Barken und Sänften bleiben. Wer zuerst am Ufer ist, los!« Geschmeidig wie ein Aal schoss er los und stand längst im Gras, als Huy aus dem Wasser stieg.
Nachdem einer der Wächter das Feuer angezündet hatte, saßen sie, die Arme um die nackten Knie geschlungen, nebeneinander und blickten schweigend und zufrieden in die Flammen, bis der Lärm der letzten Gäste verklungen war und im Osten der Tagesanbruch zu ahnen war. Thutmosis gähnte. »Es war ein schönes Fest. Und wenn wir übermorgen nicht zurück in die Schule müssten, würde ich den ganzen Tag schlafen. Aber Nascha möchte mit uns in die Sümpfe fahren. Das wird sicher nett, und du kannst dein Versprechen einlösen und ihr erzählen, wie du zum Seher geworden bist. Allerdings wird es ihr egal sein. Für sie bleibst du ein zweiter Bruder, den man ärgern und verwöhnen kann.« Huy antworte nicht auf Thutmosis’ scherzhaften Ton. Seine Gedanken waren zu Anuket zurückgekehrt.
Am Nachmittag fuhren die drei auf den Fluss hinaus. Nascha litt offenkundig darunter, dass sie am Abend zuvor zu viel Wein getrunken hatte. Sie hatte sich auf dem kleinen Boot einen Baldachin aufstellen lassen und saß zurückgelehnt in dessen Schatten, während sie der Diener durch das hohe, raschelnde Röhricht stakte, und sah ziemlich blass aus. »Ich konnte heute Morgen kein Kajal auf meine Lider tun«, beklagte sie sich. »Meine Augen haben zu sehr gebrannt. Mutter hat mir Rizinusöl gegeben. Ach, warum mag ich Wein auch so sehr!«
»Mögen ist nicht das Problem, Nascha«, antwortete Thutmosis schadenfroh, »zu viel zu trinken ist es.«
»Ich habe nicht mehr getrunken als du, Huy. Und ich habe dich beobachtet, wie du Anuket beobachtet hast. Lässt dich die Liebe nüchtern bleiben?« Sie lachte und zuckte dann zusammen, als ein großer weißer Reiher neben dem Boot aus dem Röhricht brach und schwerfällig über sie hinwegflatterte. Eine einzelne weiße Feder schwebte herab. Huy fing sie und reichte sie Nascha. Er hätte nicht gedacht, dass sie zu solchen Beobachtungen fähig war. Es ärgerte ihn, denn er wollte nicht, dass seine Gefühle für Anuket durch Naschas leichtfertige Reden abgewertet würden.
Er tat so, als hätte er ihre Frage nicht gehört. »Weder Wein noch Bier zeigen neuerdings bei mir Wirkung«, sagte er und erzählte ihr dann die Geschichte, die ihn selbst immer noch mit Verwunderung und Schrecken erfüllte.
Sie strich über die Feder und lauschte mit geschlossenen Augen. Als er geendet hatte, dankte sie ihm für das Vertrauen, das er ihr entgegenbrachte, und versprach, alles, was sie aus der Straße der Korbmacher brauchte, von Dienern besorgen zu lassen. »Wenigstens bis bewiesen ist, dass du ein Schwindler bist«, spottete sie freundlich. »Diese Geschichte strapaziert meine Gutgläubigkeit, Huy. Dass der König zum Gott wird, ist eine Sache – das ist die Maat. Doch dass ein Junge aus Hut-Herib zum Seher wird? Das sprengt sicher die Grenzen von Maats Macht. Ich räume einzig ein, dass du einen schweren Unfall hattest, und ich werde mich von der Straße der Korbmacher fernhalten, weil du mich darum bittest. Da wir beim Thema Körbe sind: Thutmosis, öffne unseren, dann können wir etwas essen. Oder besser: Ihr esst, und ich genehmige mir einen Schluck Wein.« Sie richtete sich auf. »Es heißt, dass ein bisschen Wein am nächsten Tag die Auswirkungen des Abends zuvor lindert.«
»Vater glaubt an Huys Verwandlung, Nascha«, sagte Thutmosis bestimmt, als er den Korbdeckel hob und die Sachen herausholte. »Du hast ja keine Ahnung. Du bist nur frech.« Er entstöpselte den Krug, goss etwas Wein ein und reichte ihn ihr.
Sie trank und leckte sich die Lippen. »Ich weiß, dass Vater es sich zweimal überlegen wird, ehe er Anuket einem Mann gibt, der die Zukunft vorhersagen kann oder das zumindest behauptet«, ging sie ihn scharf an. »Und du brauchst nicht so verlegen dreinzusehen, Huy. Ich war gestern Abend zwar ziemlich betrunken, aber ich bin nicht dumm. Jeder hat deine zunehmende Zuneigung zu meiner kleinen Schwester bemerkt, auch Vater. Er mag dich sehr. Ich auch. Aber Anuket mit einem Seher verloben? Außerdem: Müssen Seher nicht keusch bleiben, damit sie ihre Gabe nicht verlieren?«
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