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Der Seher des Pharao

Der Seher des Pharao

Titel: Der Seher des Pharao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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zuwenden. Ich habe mit deinem Vorsteher gesprochen, und wir haben deine Nachmittage geändert. Nach dem Mittagessen und dem Schlafen trainierst du weiterhin mit dem Bogen und dem Speer, neu hinzu kommt Wagenlenken. Schwimmstunden brauchst du nicht mehr. Nach rund einer Stunde auf dem Sportplatz gehst du ins Badehaus, wäschst dich gründlich und kommst hierher in meine Gemächer. Zusammen gehen wir dann zum Isched-Baum, in dessen Schatten du das Buch Thot liest, bis es Zeit zum Abendessen ist. Ich vermute, diese Einteilung ist dir genehm?«
    Das war eine echte Frage. »Ja, Meister, natürlich. Sitzt du dabei, wenn ich lese?« Er dachte an sein erstes Zusammentreffen mit dem Oberpriester und dem Baum und war besorgt.
    »Nein, das ist nicht nötig. Es ist nicht schwer, die Rollen zu lesen. Die Sprache ist altertümlich, aber für einen Schüler mit deinen Kenntnissen kein Problem. Du kannst deine Palette mitnehmen und dir Notizen zu Dingen machen, über die du später nachdenken willst. Das Buch muss selbstverständlich beim Isched-Baum bleiben. Wenn du das Gefühl hast, du hast genug für diesen Tag gelesen, egal, ob das ein paar Minuten oder mehrere Stunden waren, dann sagst du dem Wächter Bescheid. Er wird mich holen, und ich räume die Rollen dann weg. Die Abende kannst du verbringen, wie du willst.« Er erhob sich und kam um den Tisch herum. »Ich werde im Tempel gebraucht, und du kannst dich jetzt auf den Unterricht vorbereiten, der morgen früh wie üblich stattfindet. Die anderen Jungen treffen jetzt auch allmählich in ihren Höfen ein. Geh und begrüße deine Freunde.«
    Huy stand auf. »Ich nehme an, es ist mir verboten, über das, was ich lese, zu sprechen. Ist das richtig, Meister?«
    »Mit Fragen solltest du zu mir oder zur Rechet kommen.« Er zögerte. »Das Buch ist niemandem verboten, Huy. Die Aufgabe der Priester hier und in Chmunu ist seine sichere Verwahrung, nicht, es von denen fernzuhalten, die es lesen wollen. Man sollte meinen, dass jeder Mann, der des Lesens mächtig ist, erfahren möchte, was der Gott über die kosmische Ordnung festgehalten hat, aber es kommen nur wenige und fragen danach.« Er schürzte die Lippen. »Es ist fast so, als würden die Götter jene auswählen, die es lesen sollen, und sie herschicken. Seit ich Oberpriester bin, wollten es nur zwei Männer lesen. Keiner von ihnen blieb lange. Beide scheinen das darin gefunden zu haben, was sie suchten, doch als ich darin las, habe ich nur eine einzige Wahrheit begriffen.«
    »Und was war das, Meister?«, fragte Huy gespannt.
    »›Re ist der Schöpfer der Namen seiner Gliedmaßen, die dann als die Götter, die nach Re folgten, in Erscheinung getreten sind‹«, zitierte Ramose und sah Huy fragend an. Huys Miene blieb verständnislos. »Denk einen Moment darüber nach.«
    Huy zuckte zusammen. »Das kann nicht sein!«, rief er. »Das würde bedeuten …«
    »Ja«, bestätigte Ramose ruhig. »Vergiss nicht, dass die Worte in der Frühzeit unserer Geschichte niedergeschrieben wurden, bevor es die unzähligen Götter gab, die wir heute haben. Diese Worte stehen im siebzehnten Kapitel des Totenbuchs. Unsere Götter sind Personifizierungen der Namen von Re. Jeder Gott ist eines seiner Glieder. Der Name eines Gottes ist der Gott selbst.«
    »Re ist also die sichtbare Erscheinungsform des Schöpfergottes Atum. Was Re für Atum ist, ist unser König für Re.«
    »Du wirst noch viel, viel mehr als dies aus dem Buch lernen«, sagte Ramose. »Mehr als ich je ergründen kann. Du bist dafür auserwählt worden. Wenn du möchtest, kannst du Thutmosis ins Vertrauen ziehen, doch er wird kaum mehr als eine Schallmuschel für dich sein. Er wird nur begreifen, dass er dich liebt. Bleib noch eine Weile im Tempelgarten sitzen. Versuche, deinen Geist freizumachen.« Ramose beugte sich zu ihm. »Vielleicht ist es gut, dass deine Eltern sich wenig um die Götter kümmern. So bringst du keine vorgefasste Meinung in das Studium des Buches ein. Die Götter müssen verehrt werden, Huy, aber was sind die Götter? – Es ist spät. Ich muss gehen. Bis morgen Nachmittag.« Er eilte mit wehender Robe davon.
    Huy folgte ihm wesentlich langsamer. Er grübelte über die hingeworfene Bemerkung des Priesters über seine Eltern nach. Die Scham über seine Herkunft würde ihn wohl immer verfolgen, dachte er düster, sie schlief nur, bis eine zufällige Bemerkung sie wieder weckte. Egal, wie geschliffen seine Rede war, wie kultiviert sein Benehmen, wie erlesen seine

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