Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
fürchten.« Mit den Fingerspitzen strich er ihr über die wunde Wange, was ihr nur weitere Schmerzen bereitete. »Ich höre so lange nicht auf, bis ich bekomme, was ich haben will.« Er strich in die entgegengesetzte Richtung, diesmal jedoch mit mehr Druck. Isobel konnte nur knapp einen Schmerzensschrei unterdrücken.
»Widmen wir uns jetzt wieder dem eigentlichen Thema.« Er hockte neben ihr und beobachtete sie aufmerksam. »Wo finde ich deinen Ehemann und die andere Hälfte des Steins? Und diesmal solltest du besser nicht lügen.«
»Ich weiß nicht, wo er ist, und das ist die Wahrheit.« Sie zerrte an ihren Fesseln und ließ zu, dass ihre Wut die noch verbliebene Verzweiflung auslöschte. »Nur ein Seher könnte Euch so etwas verraten«, herrschte sie ihn an und erkannte einen Moment zu spät, was ihr da über die Lippen gekommen war.
Ein Funkeln regte sich in seinen dunklen Augen. »Ganz meine Meinung.« Er griff in seinen Waffenrock und holte den halben Stein hervor. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du die gleichen Fähigkeiten besitzt wie deine Mutter.«
Isobel bekam kein Wort heraus. Ihre Kehle weigerte sich, auch nur einen Ton nach draußen zu lassen, während Grange sich neben ihr hinkniete. Reflexartig zerrte sie wieder an den Fesseln, doch er kam näher und drückte ihr den Stein auf die Stirn. »Wo ist die andere Hälfte?«
Schaudernd kniff sie die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr übers Gesicht zu laufen drohten. Sie war allein und hilflos, und es gab nichts, was sie hätte tun können, um dem Treiben ihres Vaters ein Ende zu setzen.
Erschrocken riss sie die Augen wieder auf, da er ihr den Stein mit grober Gewalt auf die Stirn presste. Ihr Blick begegnete seinem, und sie sah, wie er ihre Angst in sich aufnahm.
Isobel zwang sich, an ihm vorbei zu den bunten Glaskugeln an der Decke zu schauen. Glaskugeln, die Wolf geschaffen hatte. Das Licht wurde vom Glas gebrochen und schillerte in allen Farben des Regenbogens.
In diesem Licht fand sie Trost. Durch die Glaskugeln war Wolf bei ihr.
Langsam fielen ihr die Augen zu, doch die Farben waren weiterhin zu sehen. Rot vermischte sich mit Orange, Grün mit Blau, bis sie von einer leuchtenden Farbpalette umgeben war und keine Angst mehr verspürte.
»Wo ist die fehlende Hälfte des Steins?«, durchdrang Granges Stimme ihre Gedanken. »Sag mir, was du siehst.«
Ein Zittern durchfuhr sie, als ein Bild Gestalt annahm. Mit jedem Herzschlag wich etwas mehr Wärme aus ihrem Körper. Ihre Haut kribbelte wie von tausend Nadelstichen, Taubheit breitete sich in Armen und Beinen aus.
Eine Gestalt schritt auf sie zu, sie war in der Ferne von ein paar Bäumen eingerahmt. Nein, die Gestalt schritt nicht, sondern rannte auf sie zu. Die schlanken Konturen seines Körpers bewegten sich mit der Eleganz und der Kraft einer wilden Bestie.
Ihr lief eine Gänsehaut über den Körper, sie atmete langsamer, und allmählich wich das Leben aus ihren Armen und Beinen. Sie lag völlig entspannt da und durchlebte die Vision, da sie weder körperlich noch geistig fähig war, sich gegen die Kräfte des Steins zur Wehr zu setzen.
Das Bild der Bestie wurde klarer. Der dunkle Umriss streckte sich in die Länge und begann sich aufzurichten, bis die Gestalt nur noch auf zwei Beinen lief, zwei muskulösen Beinen, die in schwarzen Lederstiefeln steckten.
Ein Kettenhemd unter einem Waffenrock aus schwarzem Leder bedeckte den Oberkörper. Darüber trug die Gestalt einen Tartan in dem neuen Muster, das sie zusammen mit der Weberin geschaffen hatte. An der Hüfte hing eine Scheide, darin steckte ein langes, tödliches Schwert. Ein Krieger, keine Bestie, rannte da auf sie zu.
Wolf.
Ein Lichtblitz zuckte durch den Raum. Trotz der verheerenden Kälte, die sie lähmte, schaffte Isobel es, sich zur Quelle dieses Blitzes umzudrehen. Wolf stand in der Tür, sein Körper ließ die Sonne nur in vereinzelten, dunstigen Streifen ins Innere dringen. Mit dem letzten Rest an Verstand, den sie noch kontrollierte, wunderte sie sich darüber, wie lebensecht ihre Vision geworden war. Sie konnte sogar den markanten Duft wahrnehmen, den Wolf verströmte.
Ein beruhigter Seufzer kam ihr über die Lippen, da sie sich nicht länger vor dem Ort fürchtete, an den die Vision sie gebracht hatte. Vielleicht wusste ihr Verstand ja, dass es für sie wichtiger war, diesen Mann wiederzusehen als zu verraten, wo sich der andere Stein befand.
»Ist es das, wonach Ihr sucht?«, drang Wolfs Stimme
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