Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
Morgen warten, denn im ersten Licht der Dämmerung war es immer noch düster genug, um nicht gesehen zu werden.
Wenn sie dann ihr Verschwinden entdeckten, würde Izzy bereits weit genug vom Schiff entfernt sein. Sie konnte ihre Angst vor der Dunkelheit beherrschen, solange sie wusste, dass es bald hell werden würde.
Zumindest so lange, bis wieder die Nacht anbrach.
Sie verkniff sich ein Aufstöhnen. Hätte sie sich doch bloß nicht so sehr vor der Finsternis gefürchtet.
Fünftes Kapitel
Die Zeit verging nur langsam, während Izzy unter der Decke darauf wartete, dass die finstere, kalte Nacht dem Morgen wich. Ihre Muskeln schmerzten, da sie sich nicht zu rühren wagte, und als sie bereits glaubte, es nicht länger aushalten zu können, entdeckte sie am Horizont endlich die schwache morgendliche Helligkeit.
Darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, kletterte sie aus dem Boot und packte mit beiden Händen die Winde, damit sie das Boot zu Wasser lassen konnte.
»Nehmt Eure Hände da weg«, ertönte plötzlich Wolfs unüberhörbar verärgerte Stimme.
Izzy erschrak und wirbelte zu ihm herum, verlor dabei jedoch den Halt und … fiel über die Reling.
Wolf machte noch einen Satz nach vorn, griff jedoch ins Leere und konnte ihren Sturz nicht mehr verhindern.
Sie schlug rücklings auf der Wasseroberfläche auf, ein brennender Schmerz jagte durch ihren Körper, die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst, und plötzlich umgab sie eine Schwärze.
Das eisige Meer zog sie sofort nach unten, und so sehr sie auch mit den Armen ruderte, um an die Oberfläche zurückzukehren, stellte das Wasser eine so massive Barriere dar, dass sie sie einfach nicht durchdringen konnte. Ihre Brust schmerzte, da sie dringend einatmen musste. Sie verkrampfte sich, jeder Muskel schien zu erstarren. Aber sie durfte nicht aufgeben, denn das hätte ihren Tod bedeutet. Sie konnte den Schmerz ertragen, das war ihr auch schon früher gelungen, doch die Angst vor der Dunkelheit lähmte sie auf eine Weise, wie es nicht mal der Schmerz vermochte.
Sie musste sich entspannen, sie musste sich zwingen, gegen die Verzweiflung anzukämpfen, die sie gefangenhielt. Izzy schloss die Augen und entspannte sich, damit ihre Muskeln sich lockerten. Auf diese Weise durfte ihr Leben nicht enden. Nach allem, was sie durchgemacht und erduldet hatte, wäre es unwürdig gewesen, jetzt einfach zu ertrinken.
Der Gedanke war ihr gerade erst durch den Kopf geschossen, da hatte sie auf einmal das Gefühl, schwerelos zu sein. Ein Arm legte sich ihr um die Taille und zog sie nach oben, bis sie die Wasseroberfläche durchbrach. Der Wind wehte ihr ins Gesicht, und obwohl ihre Lungen nach Luft schrien, konnte sie nicht atmen.
Wolf hielt sie mit seinen Armen umschlossen, seine Wärme und seine Kraft sprangen auf sie über und schirmten sie vor den kalten Wellen ab. Mit zornigem Blick betrachtete er sie. »Isobel, nun atmet doch endlich!« Er schüttelte sie. »Atmet, verdammt nochmal! Atmet!«
Auf seine Aufforderung hin holte sie Luft, doch ihre Lungen wehrten sich dagegen und verkrampften sich, als sie tiefer einzuatmen versuchte.
Er drehte sie in seinen Armen um, dann zog er sie an seine breite Brust. »Ihr seid in Sicherheit«, flüsterte er ihr zu und klang dabei überraschend ruhig. »Atmet weiter.«
Die Rufe vom Schiff schallten über das Wasser bis zu ihnen. »Mann über Bord!« In ihrem Rücken fühlte sie den gleichmäßigen Rhythmus, in dem sich Wolfs Brust bei jedem Atemzug hob und senkte. »Rafft die Segel!« Sein Herzschlag unterstrich jeden Ruf vom Schiff. »Lasst das Beiboot zu Wasser! Schnell!«
Diesmal gelang es ihr, langsam und tief durchzuatmen, dann ein weiteres Mal, bis die Schmerzen nachließen und etwas anderem, noch Beunruhigenderem wichen. Ein warmes Gefühl regte sich in ihr, das aus ihrem Inneren kam und ausstrahlte wie ein Sonnenstrahl inmitten einer See aus Eis. Diese widersprüchlichen Empfindungen irritierten sie, und sie war entschlossen, ihre Reaktion auf jeden Fall vor ihm zu verbergen. Eine Welle traf sie an der Brust, Wasser spritzte ihr ins Gesicht. Sie drehte noch rasch den Kopf zur Seite, aber damit drückte sie gleichzeitig ihr Gesicht gegen den nassen Stoff von Wolfs Kleidung.
»Entspannt Euch, sonst werdet Ihr noch uns beide in die Tiefe ziehen.« Er redete energisch, jedoch nicht unfreundlich auf sie ein.
»Ich verspüre keine Todessehnsucht …»Bei jedem Wort schlugen ihre Zähne klappernd aufeinander. »Ich will nur
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