Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
ausgesprochen besänftigende Wirkung. Es musste doch einen Weg geben, um von diesem Schiff zu entkommen. Nachdenklich starrte sie hinaus aufs Meer.
Sie könnte sich verstecken. Als sie unter Deck gewesen war, hatte sie die zahlreichen Quartiere und Lagerräume gesehen. Mehrere Hängematten säumten die aufgestapelten Kisten und Fässer mit Vorräten, Hängematten, in denen jetzt wahrscheinlich die nicht zum Dienst eingeteilten Matrosen lagen und schliefen. Wenn sie sich irgendwo versteckte, würden diese Männer sie vermutlich als Erste entdecken. Außerdem würde der Schwarze Wolf von Schottland zweifellos unter Deck nach ihr suchen, wenn sie nirgendwo an Deck zu sehen war. Nein, da musste sie sich schon etwas viel Klügeres ausdenken.
Die Stille an Deck sorgte dafür, dass sie das Plätschern der Wellen am Schiffsrumpf hören konnte. Dann fiel ihr Blick auf das festgezurrte kleine Beiboot nahe der Reling.
Gerade war sie zwei Schritte weit darauf zugegangen, da eilten zwei Matrosen an ihr vorbei, die auf dem Weg zum Achterdeck waren. Als sie dort eintrafen, kamen ihnen zwei andere Matrosen entgegen. Es war Zeit für einen Wachwechsel.
Sie schlenderte weiter an der Reling entlang, ohne die Männer aus den Augen zu lassen. Konnte sie den Augenblick des Wachwechsels für ihren Plan nutzen? Ihr Weg über das Deck führte sie zu einem zweiten Beiboot. Sie sah sich die Vertäuung genau an und kam zu dem Schluss, dass es ganz einfach war, das Boot zu Wasser zu lassen. Das war auch nötig, schließlich sollte sich die Besatzung bei einem Notfall so schnell und unkompliziert wie möglich in Sicherheit bringen können.
Izzy verkniff sich mit Mühe ein triumphierendes Lächeln, als ihr auffiel, dass die Wachleute sie hier überhaupt nicht sehen konnten. Ihre Hand wanderte zu der Kurbel. Würde es ihr gelingen, das Boot zu Wasser zu lassen und zu entkommen?
Dann verschwand das Lächeln so schnell von ihren Lippen, wie es gekommen war. Am helllichten Tag war es nicht möglich, einen Versuch zu wagen, da man sie beim Fortrudern zu leicht entdecken konnte. Aber wenn sie den Wachwechsel am Abend oder in der Nacht nutzte, wenn die Dunkelheit ihr Schutz bot …
So beiläufig wie möglich, um keinen Argwohn zu wecken, suchte sie den Horizont nach Land ab. Irgendwo dort drüben musste die Küstenlinie verlaufen, doch es wäre dumm von ihr, sich mit dem Beiboot abzusetzen, wenn sie nicht wusste, in welche Richtung sie rudern musste. Also hielt sie zunächst weiter Ausschau nach irgendeinem Hinweis auf Land, während sie gemächlich zu ihrem Nachtlager zurückkehrte und darauf wartete, dass der perfekte Zeitpunkt kam, um zur Tat zu schreiten.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Abend anbrach. Izzy lag auf ihrer Matratze, starrte das über ihr gespannte weiße Segeltuch an und lauschte auf das Ächzen und Knarren des Schiffs. Als auch die letzten Reste des orangeroten Himmels verschwunden waren, ertönte der leise Pfiff, der den Wachwechsel ankündigte.
Schlurfende Schritte zogen an ihr vorbei und begaben sich unter Deck. Die Matrosen, die bislang Wache gehalten hatten, gingen nach unten, um ihre Ablösung zu wecken.
Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Inneren des Schiffs, dann war zu hören, wie mehrere Männer aus ihren Hängematten stiegen. Izzy musste sich beeilen.
Mit rasendem Herz steckte Izzy Mistress Henny zurück in den braunen Beutel und lief zur Reling bis zum Beiboot am Schiffsheck. Sie legte den Beutel ins Boot und griff nach der Winde, als ein Blick auf die schwarze See jenseits der Reling sie erstarren ließ.
Eine allzu vertraute Panik erfasste sie, lähmte ihre Muskeln und raubte ihr den Atem. Konnte sie das wirklich schaffen? War sie in der Lage, sich freiwillig in diese Schwärze zu begeben? Die Wucht ihrer Ängste veranlasste sie, einen Schritt nach hinten zu machen. Es war unbedeutend, wie viel Zeit seit ihrer Gefangenschaft vergangen war, die Finsternis ließ sie immer in diese Vergangenheit zurückkehren und machte sie handlungsunfähig. Sie verspürte einen stechenden Schmerz, als sie durchatmete und sich zu einer Ruhe zwang, die sie eigentlich gar nicht empfand. Konnte sie sich allen Ernstes aus freien Stücken dieser ewigen Schwärze ausliefern?
Schritte auf der Leiter kündeten von den Matrosen, die an Deck kamen, um die Wache zu übernehmen. Da sie sich keinen anderen Rat wusste, kletterte sie kurz entschlossen in das Beiboot und zog den Beutel mit Mistress Henny an sich. Sie konnte bis zum
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