Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
Tagen nicht mehr. Und sie bezweifelte, dass sich daran etwas ändern würde, solange Wolf sie in seiner Burg festhielt. Nur unter freiem Himmel hatte sie das Gefühl, durchatmen zu können. Diese großen bunten Fenster linderten zwar ihre Panik vor geschlossenen Räumen, aber nichts war vergleichbar damit, frische Luft auf der Haut zu spüren.
Izzy seufzte. »So viel ist geschehen. Vielleicht geht es mir besser, wenn ich eine Weile geschlafen habe.« Sie nahm die Hände herunter. »Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Euch bitte, mich für eine Zeit lang allein zu lassen?«
»Es ist womöglich nicht sehr klug, Euch hier ungeschützt zurückzulassen, solange die Tür …«, begann Mistress Rowley.
»Diese Burg ist eine Festung. Wer sollte mir hier etwas antun?« Und auf Mistress Rowleys skeptischen Blick hin fügte sie hinzu: »Ich verspreche auch, auf der Hut zu bleiben.«
»Also gut, meine Liebe«, lenkte die ältere Frau ein. »Ich werde die Tür schließen, so gut es geht. Der Schreiner kommt sicher in Kürze her, um sie zu reparieren. Ruht Euch aus.«
Izzy wartete, bis sie hörte, wie sich Mistress Rowleys schlurfende Schritte auf dem Gang entfernten, dann erst ließ sie erschöpft die Schultern sinken. Dass sie sich müde und kraftlos fühlte, war keine Ausflucht gewesen. Sie wollte wirklich nur ihre Ruhe haben, doch sie bezweifelte, dass sie an diesem neuen und ungewohnten Ort Schlaf finden würde.
Vielleicht würde es ihr leichter fallen, wenn sie noch eine Weile nähte. Also griff sie wieder nach Nadel und Faden, doch dann wurde ihr klar, dass sie keine Lust zum Nähen mehr hatte. Sie legte die Nadel weg und nahm eine Apfelscheibe, die aber im nächsten Moment wieder auf dem Tablett lag, da sie auch schlagartig keinen Hunger mehr verspürte.
Abermals wurde ihr schwindelig, so dass sie sich an der Tischkante festklammern musste, bis das Gefühl vorüber war. Was war nur mit ihr los? Sie hatte schlimmere Konfrontationen lebend überstanden. Warum nur machte ihr dieser kurze Streit mit ihrem zukünftigen Ehemann so sehr zu schaffen? Sie sah zur Tür, während der Wunsch nach frischer Luft so übermächtig wurde, bis sie nach Atem ringend dasaß.
Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an den freien Himmel, und es war dieser Gedanke, der sie aus dem Zimmer auf den Gang trieb, wo sie die Schatten nach einem Hinweis auf Wolf absuchte. Er war nirgends zu entdecken, und auch niemand sonst hielt sich hier auf. Mondlicht fiel durch einen Treppenaufgang auf einen ausladenden Wandteppich, der Männer und Frauen bei der Jagd auf einen Fuchs zeigte. Die Augen des Tiers verrieten dessen Panik, und Izzy konnte mit dem Fuchs mitfühlen, denn sie selbst fühlte sich ebenso gejagt und in Angst und Schrecken versetzt.
Sie hatte die Kraft aufgebracht, sich Wolf zu widersetzen, doch innerlich hatte sie gezittert. So wie sie jetzt auch zitterte, als sie einen Blick ins Treppenhaus warf, das hinaufführte in die frische Luft. Eigentlich wäre es einfacher gewesen, nach unten zu gehen, den Saal zu durchqueren und von dort auf den Burghof zu gelangen, wo sie auch im Freien war, doch das würde viel zu lange dauern. Sie musste jetzt sofort raus aus dieser beklemmenden Enge.
Sie sah wieder zu den nach oben führenden Stufen und musste daran denken, dass Wolf ihr untersagt hatte, die Treppe zu benutzen, über die sie ins Gemach im oberen Teil des Turms gelangen konnte. Sie hatte sich ihm an diesem Abend schon einmal widersetzt, und es war keineswegs klug, das auch noch ein zweites Mal zu machen. Doch wo sollte sie sonst die so dringend benötigte frische Luft finden?
Ihr Verstand unterlag der aufkommenden Panik, und ehe sie es sich versah, stand sie auch schon auf der ersten, dann auf der zweiten Stufe. Dabei wollte sie eigentlich gar nicht diesen Turm betreten, diesen engen, umschlossenen und dunklen Ort.
Doch sie wollte unbedingt eine kühle Brise im Gesicht spüren, und dazu musste sie den Turm bezwingen, denn nur so konnte sie die Wehrgänge erreichen. Aber … würde sie in diesem Turm auch noch auf etwas anderes stoßen?
Hielt er sich hier auf? Sie lauschte, doch von oben war kein Geräusch zu hören. Die nächtliche Luft legte sich ihr schwer und erdrückend auf die Brust. Sie bezwang die nächste Stufe, die übernächste und so weiter. Noch eine Stufe, dann wäre sie bei der Tür.
Abgestandene, stickige Luft umgab sie und benebelte ihre Sinne. Nur das Verlangen nach frischer Luft trieb sie weiter vorwärts.
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