Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
nichts zu merken. Ihre Mutter hatte sich in diesem Punkt geirrt, so wie sie auch in vielen anderen Dingen falschgelegen hatte.
Izzy hob die Hand, um den Stein an ihrer Halskette zu umschließen. Ihre Finger legten sich um ihn, der Daumen strich über die polierte Oberfläche. Vielleicht war es ja möglich, die Dinge zu vergessen, die sie beide überhaupt erst zusammengeführt hatten, all die unausgesprochenen Geheimnisse, um nur für den Moment zu leben, wozu sie von ihm ermutigt worden war.
Er legte ihr einen Arm um die Taille und zog sie an seinen warmen Körper. Sie hatte genug von den alptraumartigen Zeiten in ihrem Leben, im Gefängnis ebenso wie bei den MacDonalds. Womöglich waren dieser Mann und dieses andere Leben ihre Entschädigung für all die Entbehrungen der Vergangenheit. Oder war dies nur eine kurze Verschnaufpause, der eine noch größere Bedrohung folgen würde?
Der Gedanke war ihr gerade erst gekommen, da zuckte ein weißes Licht durch ihren Kopf. Unwillkürlich hielt sie den Stein fester umschlossen. Sie versuchte ihn loszulassen, doch ihre Finger verweigerten ihr den Gehorsam. Das weiße Licht verblasste und wich einem Farbenwirbel.
Eine Vision entstand vor ihrem geistigen Auge.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Ein roter Klecks tauchte in Isobels Geist auf, gefolgt von einem grünen, einem purpurfarbenen und einem goldenen. Exotische Farben vermischten sich miteinander und bildeten Wirbel. Sie versuchte, diese Bilder abzuwehren und dagegen anzukämpfen, dass die ihren Verstand so umfassend im Griff hatten.
Doch so sehr sie sich auch sträubte, alle Anstrengungen waren vergebens. Die Vision griff weiter um sich, bis Izzy ein klares Bild vor sich sah. Sie stand an einem Flussufer, schmutziges braunes Wasser umspülte ihre Füße, Wellen mit weißen Schaumkronen tauchten sie in einen feinen Nieselregen. Sie trug ihr altes Kleid, das Mistress Rowley in Wirklichkeit längst verbrannt hatte. Es hing locker auf ihren Schultern, und was von dem Kleid noch übrig war, hing in Fetzen bis auf ihre Füße herab.
Hinter ihr saß ein Wolf. Das gleiche Tier, das sie bereits in der früheren Vision gesehen hatte, nur dass der Hinterlauf inzwischen verheilt war. Der Wolf beobachtete sie aus einiger Entfernung, seine dunklen Augen waren unergründlich.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie versuchte, die Arme um sich zu schlingen, um die wenige Wärme zurückzuhalten, die in ihr steckte, doch etwas zog an ihren Handgelenken. Sie strengte sich mehr an, aber es wollte ihr nicht gelingen, die Hände zu bewegen, und dann stellte sie fest, dass sie wieder Fesseln trug wie damals, als sie jahrelang im Gefängnis auf der Insel eingesperrt gewesen war.
Wasser umspülte ihre nackten Zehen, und als sie zurückzuckte, musste sie feststellen, dass sie von einer Strömung umgeben war, die an ihren Unterschenkeln, dann an ihren Knien zerrte. Sie wollte sich von der Stelle rühren, doch ihre Füße waren wie mit dem Untergrund verwachsen.
Panik überkam sie, und sie schaute über die Schulter zu der Bestie. Ein Hilfeschrei kam ihr über die Lippen, wurde jedoch vom Tosen der Strömung übertönt, die längst ihre Taille umspülte.
Die Miene des Wolfs verhärtete sich, und dann lief er davon. Geheimnisse neigen dazu, ans Licht zu kommen. Das Wissen darum, wer du bist, wird dich zerstören, wird uns zerstören, hallte eine Stimme von allen Seiten wider.
Verwirrung vermischte sich mit Panik. Das Wasser schien mit jedem Atemzug höher zu steigen. Die Strömung zerrte brutal und unerbittlich an ihr, sie zog sie unter Wasser in die Tiefe, hinunter in Dunkelheit und Tod. Sie musste von hier wegkommen, sie musste leben.
»Isobel.« Eine Stimme durchdrang die Schwärze. »Isobel!«
»Ich bin Isobel«, sagte sie immer wieder und versuchte, sich in den Griff zu bekommen und in die Realität zurückzukehren. Etwas zog an ihren Armen, und auf einmal endete die Vision. Sie saß auf Wolfs Bett, er hielt sie an sich gedrückt. »Was … was ist passiert?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Wolf beunruhigt. »Im einen Moment warst du noch hier bei mir, im nächsten schienst du meilenweit von mir entfernt zu sein. Du hattest eine Vision, nicht wahr?«
Isobel sah sich wie benommen um und versuchte, ihr wie wild schlagendes Herz zu beruhigen. Das Wasser war nicht mehr da, und das Gemach wurde wegen der bunten Fenster in gedämpftes Licht getaucht. Eine schwindelerregende Erleichterung erfasste sie, doch ein Rest von
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