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Der seltsame Mr Quin

Der seltsame Mr Quin

Titel: Der seltsame Mr Quin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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betrachten. Sie stand auf, strich ihren Schal zurecht und wandte sich um.
    Mr Sattersway hielt den Atem an. Ja, dachte er, solche Gesichter gab es – Gesichter, die Geschichte machten…
    Das Mädchen trat in den Gang, gefolgt von ihrem Begleiter, einem jungen Mann. Mr Sattersway bemerkte, wie alle Männer in ihrer Nähe sie ansahen und sie heimlich weiter beobachteten.
    Schönheit!, dachte Mr Sattersway. Ja, so etwas gibt es! Nicht Charme, noch Reiz oder Anziehungskraft oder irgendetwas Ähnliches, über das wir heutzutage so viel reden, sondern reine Schönheit. Die Form eines Gesichts, die Linie einer Braue, der Schwung eines Kinns. In Gedanken zitierte er die Zeile: »Ein Gesicht, das tausend Schiffe in Bewegung bringt.« Und zum ersten Mal verstand er, was diese Worte wirklich bedeuteten.
    Er sah Mr Quin an, der ihn mit solchem schweigenden Einverständnis betrachtete, dass Mr Sattersway jedes erklärende Wort überflüssig zu sein schien.
    »Ich habe mich schon immer gefragt«, sagte er nur, »wie solche Frauen wirklich sind.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Frauen, so schön wie Helena, Cleopatra, Maria Stuart.«
    Mr Quin nickte nachdenklich. »Wenn wir hinausgehen«, schlug er vor, »werden wir es vielleicht herausfinden.«
    Sie verließen die Loge, und ihre Suche hatte Erfolg. Das Paar saß auf einem Sofa in einem der Gänge. Nun konnte Mr Sattersway auch den Begleiter der jungen Frau genauer in Augenschein nehmen, einen dunklen jungen Mann, nicht besonders gut aussehend, doch es war eine gewisse Rastlosigkeit an ihm. Ein Gesicht mit vielen seltsamen Konturen – kräftigen Backenknochen, einem energischen, leicht gebogenen Kinn, tiefliegenden Augen, die wegen der dunklen dichten Brauen seltsam hell wirkten.
    Ein interessantes Gesicht, dachte Mr Sattersway. Kein Durchschnittsgesicht! Es hat etwas Gewisses.
    Der junge Mann beugte sich vor und sprach ernst auf das Mädchen ein. Sie lauschte aufmerksam. Beide gehörten nicht zu Mr Sattersways Welt. Vermutlich Künstler, überlegte Mr Sattersway. Das Mädchen trug ein ziemlich formloses Gewand aus billiger grüner Seide. Ihre Schuhe waren aus schmutzigem weißem Satin. Der junge Mann steckte in einem Smoking und schien sich darin nicht sehr wohl zu fühlen.
    Die beiden Männer gingen mehrmals an ihnen vorbei. Als sie zum vierten Mal an ihnen vorüberschritten, hatte sich eine dritte Person zu dem Paar gesellt, ein blonder junger Mann, der wie ein Angestellter wirkte. Sein Auftauchen schien eine gewisse Spannung auszulösen. Der Neuankömmling spielte nervös mit seiner Fliege und fühlte sich offensichtlich unbehaglich. Das Mädchen blickte ernst zu ihm auf, und ihr Begleiter machte ein wütendes Gesicht.
    »Die übliche Geschichte«, bemerkte Mr Quin leise im Vorbeigehen zu Mr Sattersway.
    »Ja.« Mr Sattersway seufzte. »Vermutlich ist so etwas unvermeidlich. Zwei Hunde, die sich um einen Knochen zanken. So war es immer, und so wird es auch bleiben. Und trotzdem wünscht man sich manchmal, dass es anders wäre. Schönheit…« Er brach ab. Schönheit war für Mr Sattersway etwas Besonderes, Wunderbares. Es fiel ihm schwer, darüber zu reden. Er sah Mr Quin an, der verständnisvoll nickte.
    Sie kehrten in ihre Loge zurück, um sich den zweiten Akt anzusehen.
     
    Nach dem Ende der Aufführung sagte Mr Sattersway zu seinem Freund: »Es ist ein regnerischer Abend. Mein Wagen wartet. Erlauben Sie mir, Sie irgendwohin…« Er hüstelte und schwieg.
    Das letzte Wort hatte Mr Sattersway aus Taktgefühl gesagt. »Nachhause«, würde in seinen Ohren zu sehr nach Neugierde geklungen haben. Mr Quin war immer sehr verschwiegen gewesen. Mr Sattersway wusste außergewöhnlich wenig von ihm.
    »Aber vielleicht«, fuhr der kleine Mann fort, »haben Sie auch einen Wagen?«
    »Nein«, antwortete Mr Quin. »Ich habe keinen.«
    »Dann…«
    Mr Quin schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr freundlich«, sagte er. »Aber ich möchte lieber meiner eigenen Wege gehen. Außerdem«, fügte er mit einem seltsamen Lächeln hinzu, »wenn etwas passieren sollte, ist es an Ihnen zu handeln. Gute Nacht und vielen Dank. Wieder einmal haben wir ein Drama gemeinsam erlebt.«
    Er verschwand so rasch, dass Mr Sattersway keine Zeit fand, dagegen zu protestieren. Er blieb mit einem leicht unbehaglichen Gefühl zurück. Was für ein Drama hatte Mr Quin gemeint? Den Bajazzo oder etwas anderes?
    Masters, Mr Sattersways Chauffeur, wartete wie immer in einer Seitenstraße. Sein Herr hasste das lange Warten

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