Der seltsame Mr Quin
Gefühl war so stark, dass Mr Sattersway den Kampf aufgab. Statt dessen schloss er die Augen und versuchte, sich das Bild Mr Quins noch genauer ins Gedächtnis zu rufen. Wenn er ihn doch hätte fragen können! Noch während ihm diese Überlegung in den Sinn kam, wusste er, dass sie falsch war. Es hatte nie einen Zweck gehabt, Mr Quin Fragen zu stellen. »Sie halten alle Fäden in der Hand…« Genau das würde Mr Quin zu ihm sagen.
Wieso Fäden? Sorgfältig analysierte er sein Gefühl, seinen Eindruck. Er spürte, dass Gefahr in der Luft lag. Aber wer war in Gefahr?
Sofort sah er eine Szene vor sich: Gillian West, wie sie vor ihrem Radio saß.
Mr Sattersway warf einem vorbeikommenden Zeitungsjungen eine Münze zu und nahm sich ein Exemplar. Dann schlug er das Radioprogramm nach. Heute Abend gab es eine Sendung mit Joaschbim, stellte er voll Interesse fest. Er würde Salve Dimora aus dem Faust singen, und dann mehrere Volkslieder: das Hi r tenlied, Der Fisch, Das kleine Reh und noch anderes.
Mr Sattersway knüllte die Zeitung zusammen. Jetzt wusste er, was Gillian sich anhören würde, und das machte das Bild noch klarer. Sie würde dasitzen, allein…
Ein seltsamer Wunsch, den Philip Eastney da geäußert hatte. Sieht ihm gar nicht ähnlich! Passt überhaupt nicht zu dem Mann. Er war kein empfindsamer Mensch, eher gewalttätig, gefährlich…
Ein neuer Gedanke durchzuckte Mr Sattersway. Eastney war ein gefährlicher Mann – das hatte etwas zu bedeuten. »Sie halten alle Fäden in den Händen…« Dass er Philip Eastney heute Abend getroffen hatte – wirklich seltsam! Einen glücklichen Zufall hatte Eastney es genannt. War es denn ein Zufall? Oder passte diese Begegnung nicht eher genau zu den vielfältigen Ereignissen des Tages, zwischen denen offenbar ein Zusammenhang zu bestehen schien, wie er ein- oder zweimal am Abend zu spüren geglaubt hatte?
Mr Sattersway versuchte, sich zu erinnern. Eastney musste irgendetwas Wichtiges gesagt haben. Warum hatte er sonst dieses unbezwingbare Gefühl, dass er sich beeilen sollte? Über was hatten sie sich unterhalten? Über Gesang, Kriegseinsatz, Caruso.
Caruso! Mr Sattersways Gedanken schweiften ab. Joaschbims Stimme war fast so gut wie die Carusos. Gillian würde jetzt vor dem Radio sitzen und dieser Stimme lauschen, die strahlend und voll durch den Raum klang und Glas zum Klingen bringen konnte…
Mr Sattersway hielt den Atem an. Glas! Caruso hatte angeblich Weingläser zersungen! Joaschbim sang in einem Londoner Studio, und mehr als eine Meile entfernt zerbrach ein Glas. Kein Weinglas, sondern ein Pokal aus feinem grünem Glas. Eine kristallene Seifenblase fiel herab, eine Seifenblase, die vielleicht nicht leer war…
Das war der Augenblick, in dem Mr Sattersway durchdrehte, wie ein paar Passanten glaubten, die ihn zufällig beobachteten. Er blätterte hastig in der Zeitung, warf einen raschen Blick auf das Radioprogramm und rannte die stille Straße entlang, als sei der Teufel hinter ihm her. Er fand ein Taxi, sprang hinein, schrie dem Fahrer die Adresse zu und rief, dass er so schnell wie möglich fahren solle, es ginge um ein Menschenleben. Der Fahrer hielt ihn für verrückt, aber reich, und tat sein Bestes.
Mr Sattersway lehnte sich zurück. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Bruchstücke von Dingen, die er in der Schule gelernt hatte, zuckten ihm durch den Kopf, Sätze, die Eastney am Abend gesagt hatte. Resonanz – Schwingungen, Überlagerungen von Frequenzen – irgendetwas mit einer Hängebrücke. Soldaten, die hinübermarschierten… wenn ihre Schritte die Brücke zum Schwingen brachten… Eastney hatte diese physikalischen Gesetze genau studiert. Eastney wusste Bescheid. Und er war ein Genie.
Um zehn Uhr fünfundvierzig sollte die Sendung beginnen. So spät war es jetzt genau. Ja, aber zuerst kam die Arie aus dem Faust. Es musste das Hirtenlied sein, mit dem Schrei nach dem Refrain, bei dem… ja, was eigentlich?
Seine Gedanken begannen sich wieder zu überschlagen… Töne, Obertöne, Halbtöne… Er wusste zu wenig von diesen Dingen. Doch Eastney war Fachmann. Mein Gott, hoffentlich kam er noch rechtzeitig!
Das Taxi hielt. Mr Sattersway sprang hinaus und stürzte wie ein junger Sprinter die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Er stieß sie auf, und die großartige Tenorstimme klang ihm entgegen. Er kannte die Verse, wenn er sie auch unter weniger außergewöhnlichen Umständen gehört
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