Der seltsame Mr Quin
Sie es genau wissen wollen: in der Bahn.« Und trotzig fügte er hinzu: »Warum soll man nicht auch in der Bahn Leute kennen lernen?«
»Sicher«, sagte Mr Sattersway besänftigend. »Es ist völlig egal, ob in der Bahn oder sonst wo.«
»Ich kam damals aus dem Norden zurück. Wir hatten das Abteil für uns allein. Wieso, weiß ich nicht mehr, aber wir fingen an, uns zu unterhalten. Ihren Namen kenne ich nicht, und wahrscheinlich werde ich sie wohl auch nie wiedersehen. Ich bin mir, nebenbei gesagt, gar nicht klar, ob ich es überhaupt will. Vielleicht ist es schade.« Er schwieg und versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Sie war so unwirklich, verstehen Sie? Schattenhaft. Wie diese Leute, die in den gälischen Märchen aus den Hügeln herauskommen.«
Mr Sattersway nickte freundlich. In seiner Fantasie konnte er sich das Bild gut vorstellen. Der sehr positive und realistische Bristow und eine Gestalt, die silbrig und gespenstisch war – schattenhaft, wie Bristow sie genannt hatte.
»Ich glaube, dass man so nur werden kann, wenn irgendetwas Entsetzliches passiert ist, etwas so Entsetzliches, dass es fast unerträglich ist. Vielleicht flieht man aus der Realität in eine halbwirkliche Welt, die man sich selbst gezimmert hat, und nach einiger Zeit kann man dann natürlich nicht wieder zurück.«
»Was hatte sie denn erlebt?«, fragte Mr Sattersway neugierig.
»Das weiß ich nicht«, sagte Bristow. »Erzählt hat sie mir nichts. Ich vermute es nur. Wenn man irgendetwas verstehen will, ist man immer nur auf Vermutungen angewiesen.«
»Ja«, sagte Mr Sattersway. »Man ist auf Vermutungen angewiesen.«
Er blickte auf, als sich die Tür öffnete. Schnell und voller Erwartung blickte er auf, aber die Worte des Butlers enttäuschten ihn.
»Eine Dame, Sir, möchte Sie in einer sehr dringenden Angelegenheit sprechen. Miss Aspasia Glen.«
Leicht erstaunt erhob sich Mr Sattersway. Der Name Aspasia Glen war ihm bekannt. Wer in London kannte ihn nicht? Als »Frau mit der Schärpe« war sie in einer Reihe von Matineen aufgetreten, die sie allein bestritt und mit denen sie London im Sturm erobert hatte. Mithilfe ihrer Schärpe hatte sie verschiedene Charaktere dargestellt. Nacheinander hatte die Schärpe den Schleier einer Nonne, den Kopfputz einer Bäuerin und hundert andere Dinge verkörpert, und bei jeder Darstellung war Aspasia Glen ein vollkommen und restlos anderes Geschöpf gewesen. Als Künstlerin zollte Mr Sattersway ihr großen Beifall. Zufälligerweise hatte er nie ihre Bekanntschaft gemacht. Ein Besuch zu dieser ungewöhnlichen Stunde erregte also seine größte Neugierde. Mit einigen Worten der Entschuldigung verließ er das Zimmer und ging durch die Diele in das Wohnzimmer. Miss Glen saß genau in der Mitte eines Sofas, das mit Goldbrokat bezogen war. Auf diese Weise beherrschte sie den ganzen Raum. Mr Sattersway merkte sofort, dass sie die Absicht hatte, sich die Situation nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Seltsamerweise verspürte er im ersten Moment nur Abneigung. Er war ein ernsthafter Bewunderer von Aspasia Glens Kunst gewesen. Soweit ihre Persönlichkeit über die Rampe hinaus gedrungen war, hatte er sie für reizend und sympathisch gehalten. Sehnsüchtig und reizvoll, aber nicht herrisch hatte sie gewirkt. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, bekam er jedoch einen völlig anderen Eindruck. Sie hatte etwas Hartes, Freches und Gezwungenes an sich. Groß und dunkel war sie, und ihr Alter schätzte er auf fünfunddreißig. Sie sah zweifellos sehr gut aus, und diese Tatsache nutzte sie deutlich aus.
»Sie müssen meinen Besuch zu dieser unpassenden Zeit verzeihen, Mr Sattersway«, sagte sie. Ihre Stimme war voll, farbig und verführerisch. »Ich will nicht behaupten, dass ich mich schon seit Langem danach gesehnt hätte, Sie kennen zu lernen, aber trotzdem freue ich mich über den Anlass, der mich hierher führte. Und dass es gerade heute Abend ist…« Sie lachte. »Mein Gott, wenn ich etwas haben will, kann ich einfach nicht warten. Wenn ich etwas haben will, muss ich es sofort haben!«
»Jeder Anlass, der eine so charmante Dame in mein Haus führt, ist mir willkommen«, sagte Mr Sattersway auf altmodisch galante Weise.
»Wie reizend Sie zu mir sind«, sagte Aspasia Glen.
»Meine liebe Dame«, sagte Mr Sattersway, »darf ich Ihnen hier und jetzt für das Vergnügen danken, das Sie mir oft geschenkt haben, auf meinem Platz im Parkett.«
Sie lächelte ihn entzückt an.
»Ich will auch gleich zum
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