Der Semmelkoenig
vergewissern, dass da keine Wahnsinnige mit einer Axt auf sie zustürmte, und sprintete los zu den Steinplatten, vor denen die Taschenlampe gelandet war. Rasch hob er sie auf und fühlte sich plötzlich wieder etwas sicherer. Ein Klatschen – eine Ohrfeige? Erika war in ihrer Ungeduld offenbar zu einer anderen Weckmethode übergegangen! Ein Rascheln und Schaben – Ratten? Ein »Klong«, das sich wie Metall anhörte – die Schaufel? Gleich darauf ein erstickter Ruf – ein Huschen – und Claudias Stöhnen beraubte ihn in Sekundenschnelle des kurzen Gefühls, wieder die Oberhand zu haben.
»Verflixt!«, rief er hektisch. »Was geht hier vor?«
Krautschneider wusste nicht, wohin er zuerst den Lichtschein richten sollte. In die Ecke links von sich – da waren vermutlich die Ratten! –, nach rechts – die Mörderin konnte mittlerweile schon überall sein! – oder auf Erika, die so hörbar seine Kollegin misshandelt hatte! Er zitterte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, schwenkte die Lampe hektisch hin und her, ließ Gegenstände sekundenschnell auftauchen und wieder verschwinden und sah so deshalb eigentlich gar nichts. Nur Schatten, dort ein böses Glitzern aus Rattenaugen, hier eine Tür, da einen Haufen irgendwas, dort noch eine Tür, wieder ein paar Augen, hier die Zementmaschine, daneben vielleicht einen Bottich, da einen Heizkörper, dort Gipsplatten, Werkzeuge und wieder eine Tür. Dermaßen nervös und die aufsteigende Angst kaum mehr unter Kontrolle, trat er einen unüberlegten Schritt zur Seite. Die leere Bierflasche bemerkte er zu spät. Sie kam ins Rollen, sein Fuß glitt ab, er strauchelte unweigerlich, ruderte noch verzweifelt mit den Armen und schlug dann schmerzhaft der Länge nach auf dem Betonboden auf.
»Krautschneider!«, rief Erika erschrocken. »Krautschneider! Was machen Sie denn da? Verflixt, Krautschneider! Stehen Sie sofort auf und kommen Sie zurück. Hier ist jemand. Ich kann wen atmen hören. Das muss Sandra sein! Sandra?«
Er versuchte sich aufzurichten. Ein Schatten lief auf die Türen zu. Welche würde er nehmen? Reflexartig riss er die Taschenlampe hoch, wollte in die Richtung der davoneilenden Schritte leuchten, sehen, wer es war, doch er erstarrte. Zwei Meter vor ihm hingen Füße in der Luft. Er war doch näher an dem Erhängten, als er angenommen hatte. Wie unter Zwang ließ er den Lichtstrahl weiter hochgleiten. Sein Knie schmerzte etwas, aber er merkte es nicht mehr, denn sein Blick war von dem Mann gefangen gehalten, der aus der Höhe mit starren, toten Augen auf ihn herabblickte.
»Mein Gott!«, hauchte er heiser vor Entsetzen.
»Sandra?«, rief Erika. »Sandra, bist du’s?«
»Oh mein Gott!«
Krautschneider fiel es schwer, sich von dem grauenvollen Anblick loszureißen, aber Erika hatte offensichtlich ihre psychopathische Freundin entdeckt. Er musste sie aufhalten. Schnell sah er zu der Stelle, wo er seine beiden Mitstreiterinnen zurückgelassen hatte. Erika war verschwunden, in die Dunkelheit abgetaucht.
»Erika, zum Teufel, bleiben Sie hier! Sie bringen sich in Lebensgefahr!«, schrie er panisch und kam so schnell wie möglich auf die Füße.
»Sandra! Warte doch! So bleib doch stehen! Sandra?«, klang es bereits aus dem Korridor.
Krautschneiders Entschluss, zuerst nach seiner Kollegin zu schauen und dann gleich Erika zu folgen, verzögerte sich um wichtige Sekunden, da es ihm unmöglich war, auf direktem Weg unter dem Toten durchzulaufen. Ängstlich und vorsichtig machte er einen Bogen um die Stelle, immer die Lampe auf den Erhängten gerichtet. Es war ihm fast so, als ob dieser sich mit ihm drehen wollte, oder schlimmer, dass das Seil jeden Augenblick reißen und seinen schrecklichen Anhänger auf ihn abwerfen könnte. Als er aber dann die Stelle ungehindert passiert hatte, rannte er sofort zu Claudia. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, ihr Atem gleichmäßig und ein roter Handabdruck auf der Wange zeugte noch von Erikas liebevoller Pflege.
»Zefix!«, knurrte Krautschneider. »Wenn ich die erwisch! Die kann was erleben!«
Ein letzter Blick auf die Kollegin – sie würde wohl noch ein Weilchen schlafen – und er war bereit, die Verfolgung aufzunehmen. Da sah er Claudias Waffe, die sie immer noch in der Hand hielt. Was sollte er machen? Natürlich konnte er sie lassen, wo sie sich gerade befand, und wenn Claudia doch schneller als erwartet zu sich käme, wäre sie nicht schutzlos. Aber andererseits war es grob fahrlässig, falls die
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