Der Semmelkoenig
weiter kam er nicht mit seinem Schmähgesang, denn Julian war auf ihn gestürzt und riss ihn durch seine Wucht mit zu Boden. Dort begannen sich die beiden Jungen zu wälzen und aufeinander einzuprügeln. Julian war stinksauer auf seinen Freund, der es gewagt hatte, ihn und seine zarten Gefühle für Utta so in den Dreck zu ziehen. Und Siggi war wütend, enttäuscht und vor allem eifersüchtig. Da sie von Körperbau und Alter ziemlich gleich waren, konnte man nicht absehen, wer gewinnen würde. So sahen es auch die anderen, die sofort einen Kreis um die Kämpfer bildeten, Wetten abschlossen und ihren Favoriten anfeuerten.
Vergessen war ihre Einigkeit in punkto Luitpold-Straße und der Bande von Schnöseln – Sprösslinge von ebensolchen Schnöseln, mit denen schon ihre eigenen Väter im Clinch gelegen hatten. Vergessen war die Angst, in den Mörderwald zu gehen. Vergessen waren alle anderen Probleme, die Kinder in ihrem Alter so hatten. Hier und jetzt zählte nur der Kampf und als Julian mit einem gezielten Faustschlag Siggis Nase zum Bluten brachte, wurde laut gegrölt.
»Weiter so!«, brüllte ein Zehnjähriger – eindeutig Julians Fan. »Der knickt gleich ein, wie gestern bei dem Bullen!«
Das hätte er wohl besser nicht sagen sollen, denn in Siggi setzten sich plötzlich ungeahnte Energien frei. Mit dem Ärmel das Blut von der Lippe wischend, kam er hoch, ballte die Fäuste und schlug mit einer Kraft auf seinen Gegner ein, dass alle Zuschauer entsetzt zurückwichen. Julian spuckte einen Schneidezahn aus, nahm aber gleich wieder Anlauf und das Ringen ging weiter.
Es fiel daher nicht weiter auf, dass sich Paul heimlich, still und leise von der Gruppe entfernte. Der Junge drückte sich zuerst an dem Holzstapel vorbei und als er außer Sichtweite war, fing er an zu laufen. Er hatte genug von dieser Bande. Zwar war es eine Ehre für einen Neuzugezogenen, mitmachen zu dürfen, aber er passte einfach nicht zu ihnen. Immer war er der Kleinste und Schwächste und wenn Manni nicht gewesen wäre, dann hätte Siggi ihn bestimmt schon mehr als nur bedroht. Ja, Manni – eigentlich Manfred – war in Ordnung. Nur hatte dieser heute leider Hausarrest und Paul sah keinen Sinn darin, das nächste Prügelziel von Siggi zu werden, wenn dieser mit Julian fertig sein würde und die Luitpold-Straßen-Jungs ausbleiben sollten. Paul ging jetzt langsamer. Hier war es so schön und so friedlich. Er beobachtete einen weißen Schmetterling, der im Sonnenlicht zu tanzen schien. Dann erblickte er zwischen ein paar Findlingen das glitzernde Wasser eines kleinen Teichs. Ob da wohl Kaulquappen oder vielleicht sogar Molche drin waren? Schnell lief er den kleinen Pfad entlang – der von den tiefhängenden Zweigen eines Busches verdeckt, kaum zu erkennen war – und beugte sich, vorsichtig seine Brille festhaltend, über das trübe Wasser, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu entdecken.
57
»Ich habe schon einmal angefangen, alle Personen, die in Heidis Telefonnummernverzeichnis gespeichert sind, zu kontaktieren«, begann Hannes, der immer noch vor seinem Sitzplatz stand – sehr zum Ärger von Polizeiobermeister Hammer, da dieser sich fast verrenken musste, um besser sehen zu können. Ungerührt fuhr Hannes fort:
»Viele Freunde hatte sie ja nicht, was die Aussage der Mutter bestätigt. Da wären zunächst einmal Jessica und Viola: zwei Mitschülerinnen, die sie aber schon seit Wochen nicht mehr angerufen hatte. Eine SMS an Jessica vor ein paar Tagen hatte den Wortlaut: ›komm nicht mit. keine zeit. viel spaß!‹ Ich habe mit dem Mädchen gesprochen. Sie meinte, dass Heidi, seit sie im Kindergarten arbeitete, kaum mehr etwas mit ihr unternommen habe. Dann sind da noch die Nummern der Kollegen – also die Chefin, Frau Erika Noller, Wolfgang Wiesholz und die ermordete Anni Hintersee. Ob jetzt Herr Wiesholz der gesuchte ›Wolf‹ ist, möchte ich aber immer noch nicht ganz ausschließen. Ferner haben wir die Nummern von zwei Müttern – eine Frau Lang und eine Frau Klöter –, bei denen sie ab und zu als Babysitter tätig war. Mit Frau Lang habe ich heute Morgen sprechen können und erfahren, dass Heidi am Montag auf die Tochter aufgepasst hatte, während sie mit ihrem Baby bei einem ›Training zur frühkindlichen Genieentwicklung durch Mozart‹ war.«
»Wie bitte? So was gibt’s wirklich?«
Stefanie Vogler machte runde Augen. Hannes hat mit einem leichten Zucken um die Mundwinkel schon darauf gewartet, dass jemand reagieren
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