Der Semmelkoenig
einzige Möglichkeit, von dem Teich wegzukommen, vorausgesetzt natürlich, er wollte nicht schwimmen. Schon wieder ein Geräusch! Wie das Schleifen eines großen Gegenstands, vielleicht zerrte das Tier den schlaffen Körper seiner erlegten Beute hinter sich her. Zweige knackten.
Paul zuckte zusammen und vergaß fast zu atmen. Wieder folgte diese Stille. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu singen. Der Junge atmete jetzt ganz flach und überlegte fieberhaft. Gab es hier Bären? Er hatte mal gehört, dass man diese mit lautem Singen oder Witzeerzählen vertreiben konnte. Was für ein Blödsinn! Nervös biss er sich auf die Unterlippe. Und wenn es noch etwas Schlimmeres war? Der Waldkindergartenmörder, der gerade wieder ein Opfer – nämlich ihn – auserkoren hatte, um sein blutiges Messer … Paul konnte die aufsteigende Panik nicht mehr unterdrücken. Er wusste nicht, was er machen sollte. Paralysiert starrte er auf die grünen Blätter, die das kaum Vorstellbare verbargen. Seine Ohren rauschten, sein Herz raste und er war unfähig sich zu bewegen. Ganz weit entfernt in seinem Inneren meinte er die beruhigende Stimme seiner Mutter zu hören, doch viel zu leise, denn das Aufplatschen eines Froschs – endlich, wo hatte der denn so lange gesteckt? – war so laut, dass es dem angespannten Jungen in den Ohren wehtat. Was? Was sollte er machen? Angestrengt versuchte er, sich zu konzentrieren. Durch das schlammige Wasser auf die andere Seite schwimmen, waten, untergehen? Nein, der Teich war zu unheimlich und er wäre sowieso schnell eingeholt, wenn er versuchen würde, da durchzukommen. Genauso verhielt es sich mit dem Findling. Niemals würde er es schaffen, dort schnell genug raufzuklettern. Ihm blieb nur eine Möglichkeit: Er musste auf den Wanderweg zurückkommen, ohne dass er dem unheimlichen Wesen in die Klauen, Zähne, Buschmesser, Äxte oder was auch immer fallen würde. Langsam und vorsichtig setzte er einen Fuß vor. Nichts rührte sich. Tief atmete der Junge ein. Noch einen Schritt. Jetzt war er ganz nah an dem Gehölz. Er hielt einige Sekunden die Luft an und lauschte. Immer noch nichts! Nur noch einen Meter, dann würde er losrennen, denn dann wäre er an dem Busch vorbei. Paul hob erneut den Fuß, machte einen großen Schritt – zu groß für ihn – und kam etwas ins Schwanken, sodass er nicht gleich mit seinem Spurt beginnen konnte.
Während der Junge noch mit dem Gleichgewicht kämpfte, musste er mit Entsetzen feststellen, dass er viel zu nahe an den Busch geraten war. Hoffentlich …! Etwas schnellte aus dem dichten Blätterwerk hervor, packte Paul am rechten Fußgelenk und hielt ihn fest. Das Kind stürzte, landete unsanft auf seinem Hinterteil und starrte mit schreckensweiten Augen auf das, was ihn zu Fall gebracht hatte: eine blutverschmierte Hand, die sich in sein Hosenbein gekrallt hatte. Pauls Albträume – seit er heimlich mit seiner großen Schwester einen Horrorfilm gesehen hatte, suchten ihn nachts des Öfteren abgetrennte Gliedmaße heim – waren brutale Wirklichkeit geworden. Aber bevor er reagieren konnte, verstärkte sich der Griff und er wurde zum Busch gezogen. Unaufhaltsam näherte er sich dem, was seinem jungen Leben ein jähes Ende setzen würde, und er war zu klein und zu schwach, um sich dagegen zu wehren.
Der Schrei, der sich schon seit Minuten irgendwo in Pauls Kehle bereitgehalten hatte, fand nun seinen Weg in die Freiheit. Hoch, entsetzt, hysterisch, lang und eigentlich dazu gemacht, Glas zerspringen zu lassen, hallte er durch den friedlichen Wald. Dann begann das Kind zu treten, während es gleichzeitig verzweifelt versuchte, mit den Händen irgendwo Halt zu finden. Die Finger krallten sich in den feuchten Waldboden, Moos, kleine Wurzeln, nichts konnte jedoch das Ungeheuer davon abhalten, ihn weiter zu sich zu zerren. Paul wimmerte, gab aber nicht auf, denn immer und immer wieder versuchte er, mit dem freien Fuß das grauenhafte Gesicht des Mannes zu treffen, in das er jetzt sehen konnte.
»Hilfe!«, röchelte dieser. »Hilf mir!«
Aber Paul hörte ihn nicht. Vielleicht taub durch seinen eigenen Schrei, vielleicht taub durch den entsetzlichen Anblick und den Schock trat er weiter. Langsam zeigte sich eine Wirkung. Der Griff wurde lockerer. Der Junge konnte sich befreien, wollte schnell aufstehen, wurde aber diesmal in letzter Sekunde an seinem T-Shirt gepackt und unbarmherzig wieder zurückgezerrt. Ganz nah waren die beiden sich jetzt. Paul starrte in die
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