Der Semmelkoenig
meine Brille. Ich hab meine Brille verloren!«, und wieder begann er, verzweifelt in den Blättern zu wühlen. Lotte war zufrieden mit der Erklärung, denn auch sie kannte das Problem, wenn die Sehhilfe nicht da war, wo sie eigentlich zu sein hatte. Beruhigend tätschelte sie jetzt dem Kind auf den Kopf und drehte sich zu ihrem Mann um.
»Der Bub hat seine Brille verloren!«
»Das hab ich gehört«, auch Alfred kam zu den beiden. »Aber das ist noch lange kein Grund, unsere Penny fast zu erwürgen – Schluss! Aus, Penny! Halt die Schnauze, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!«
Die Dackeldame verstummte sofort, jedoch hatte das nichts mit guter Erziehung zu tun, sondern mit dem Umstand, dass das sensible Tier sich zu Recht schlecht behandelt fühlte und es daher vorzog, beleidigt zu sein.
»Na prima, jetzt wird sie mich die nächste Woche noch nicht mal mit dem Hintern ansehen!«
»Ach Alfred, nimm’s nicht so schwer, das macht sie doch andauernd. Komm lieber her und hilf mir mit dem Kleinen. Mein Gott, Kind«, entsetzt starrte Lotte nun Paul an, der weinend auf die Füße gekommen war. »Ist das da etwa Blut auf deinem Hemd?«
Tatsächlich hatte sich zu den blau-weißen Streifen des T-Shirts ein hässlich fleckiges Rot gemischt.
63
Claudia Hubschmied öffnete die Tür und betrat den Eingangsbereich. Erstaunt musste sie feststellen, dass anscheinend gerade Pause gemacht wurde. Das ging aber schnell. Oder war die Besprechung schon fertig?
»Das is aber nett Herr Li, dass Sie sich persönlich hierher bemühen, um uns die neue Speisekarte zu bringen.«
Hammer schien wirklich sehr gerührt, machte eine kleine, steife Verbeugung und nahm fast andächtig das lieblos kopierte Faltblatt mit dem aktuellsten Mittagsmenü entgegen. Der chinesische Restaurantbesitzer lächelte hintergründig.
»Sehl gut! Hell Hammel! Sie bestel Kunde!«
»Hmmm!«
Hammer lief schon beim Lesen das Wasser im Munde zusammen.
»Ich sehe, Sie haben meine Anregungen aufgenommen. Sie haben doch tatsächlich die gewagte Kombination ›Sauerkraut mit Würstchen süß-sauer‹ auf die Karte gesetzt. Wunderbar! Das werde ich gleich mal ausprobieren. Ich frag mal, ob wir da nicht eine große Bestellung draus machen können. Schließlich ist es ja schon fast elf.«
Herrn Lis Mundwinkel zuckten eine Sekunde nach unten, als ob es ihm bei der Nennung der neusten Speise übel werden würde, aber schnell hatte der Asiate sich wieder unter Kontrolle, denn die Aussicht, hier ein gutes Geschäft zu machen, überwog alle kulinarischen Gewissensbisse. Freundlich nickte er und ließ Hammer seiner Wege ziehen. Claudia, die immer noch neben ihm stand, sah jetzt Hannes aus dem Besprechungsraum kommen. Er telefonierte. Sie musste ihn über ihre Entdeckung informieren! Immerhin war er ihr Partner. Aber auf der anderen Seite war Georg ihr Verlobter, der Mann, mit dem sie zusammenlebte, den sie bis vor einer halben Stunde noch so gut zu kennen geglaubt hatte. Aber blieb ihr eine andere Wahl? Es machte sie wütend, denn sie fühlte sich hin- und hergerissen! Sie war von sich selbst enttäuscht, so blauäugig gewesen zu sein. Was war sie doch für eine naive, gutgläubige, ja, dumme Nuss!
Georg hatte ein zweites Handy! Wie sollte sie sich nun verhalten? Sie hatte bei der Überprüfung festgestellt, dass er Heidi die SMS geschrieben hatte. Georg war Wolf! Er hatte sich mit dem Opfer getroffen! Er hatte sehr wahrscheinlich ein Verhältnis! Wie lange schon? Dass er vielleicht sogar der Mörder sein konnte, war für Claudia gar nicht mal das Schlimmste! Oh, sie würde sich rächen, darauf konnte er Gift nehmen. Sie musste unbedingt mit Hannes darüber sprechen. Warum telefonierte der denn immer noch? Sie fühlte sich so hilflos, unentschlossen, hin- und hergerissen; etwas, womit sie absolut nicht klarkam. Ein Teil von ihr – der verletzte – wollte jetzt am liebsten zu Hannes rennen, ihm das Handy aus der Hand reißen, auf den Boden schleudern, es gegebenenfalls kaputttreten und ihn anschreien. Er sollte ihr endlich die nötige Aufmerksamkeit schenken, die sie verdiente. Ein anderer Teil von ihr – der loyale – war irgendwie froh, noch etwas Zeit zu haben, und eine mahnende Stimme sagte ihr, dass Georg noch die Chance haben sollte, sich nur ihr zu erklären. Claudias Anspannung wuchs. Sie biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie tun?
»Wollen Sie einen Glückskeks?«
»Wos?«, erschrocken zuckte sie zusammen. Herr Li hielt ihr etwas
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