Der Semmelkoenig
Haareziehen war durchaus erlaubt. Dann hatten die Schnösel langsam die Hosen voll gehabt und einen Fluchtversuch gestartet. Natürlich hatten sie die Rechnung ohne Siggi gemacht. Sofort hatte er mit Indianergeheul die Verfolgung aufgenommen. Leider hatte er seine Gegner falsch eingeschätzt, und zu spät bemerkt, dass er ihre Spur verloren hatte. Die Ratten waren wie vom Erdboden verschluckt! Wütend hatte er die Suche begonnen. Wenigstens war auf seine Männer Verlass gewesen und gemeinsam waren sie stundenlang jedem Knacken und Rascheln gefolgt, den Feiglingen auf der Spur. So waren also beide Gruppen an den Wasserfall gelangt. Für die Jungs aus der Luitpoldstraße hatte sich dies als eine Sackgasse, eine Falle herausgestellt. Von den Feinden eingekesselt mussten sie sich verteidigen. Auf beiden Seiten trieben Gefühle wie Wut, Angst, Hass, Verzweiflung und Panik die Kinder an und es war klar, dass jetzt alle bis zum bitteren Ende kämpfen würden.
Ein krachender Schuss – lauter als die Schmerzensschreie, das Kampfgebrüll – machte dem Spuk ein jähes Ende. In den merkwürdigsten Positionen innehaltend, drehten sich alle Köpfe in Richtung Pfad, der nach oben zur Aussichtsplattform führte. Claudia hatte sich die Stelle im Gebüsch gemerkt, in die Georg ihre Dienstwaffe geworfen hatte, und hatte nach dem schnellen Spurt zum Wasserbecken dort glücklicherweise nicht lange nach der Pistole suchen müssen. Nun hielt sie diese mit beiden Händen in die Luft und überlegte, ob sie noch einmal abdrücken sollte; zu schön war das Gefühl, nicht mehr so hilflos zu sein. Jedoch hatten die Jungen verstanden, denn Claudias grimmiger Gesichtsausdruck signalisierte eindeutig, dass sie momentan keinen Spaß verstand. Jetzt drückte sich ein großer Jagdhund an der Polizistin vorbei und setzte sich schwanzwedelnd vor sie, denn er liebte Kinder. Die aufkommende leichte Beruhigung durch das doch recht freundliche Tier verließ die Kämpfer sofort wieder, als nun auch noch der Oberförster auftauchte. Er war für beide Gruppen von jeher die größte Bedrohung. Viel zu oft hatte er sie gestört, ihnen die Freude am Prügeln, Forts bauen und Feuer machen verdorben. Schlimmer noch: Eigentlich hatten alle Jungen mittlerweile Waldverbot. Sie waren erledigt. Vergessen waren Schrammen, Wunden, Veilchen, blutende Nasen, denn was war das im Vergleich zu der Rache des Oberförsters!?
»Jetzt langt’s aber.«
Mit diesem Anfang der Strafpredigt war zu rechnen. Komischerweise folgte nicht mehr. Stattdessen schoben die beiden Erwachsenen die Kinder einfach beiseite und gingen schnell zum Wasser. Erst jetzt sahen sie, dass da ein Mann lag. Sofort schloss sich der Kreis. Es war egal, ob nun Freund oder Feind neben einem stand, denn hier war was wirklich Tolles passiert.
»Is er tot?«, kam dann auch mutig die erste Frage.
Claudia hatte Georgs Puls gefühlt. Erleichtert schüttelte sie den Kopf.
»Naa, Gott sei Dank ned. Der lebt noch. Schnell geht’s mal zur Seite, damit wir ihn da rausziehn können.«
»Aber ich dacht, man soll Verletzte nicht bewegen und so.«
Siggi verdrehte die Augen. Na klar musste dieser neunmalkluge Kommentar von einem der Schnösel kommen. Claudia lächelte jedoch nachsichtig.
»Normalerweis scho. Nur können wir ihn jetzt nicht auch noch aus Versehen ertrinken lassen und ich hab als Polizistin da ein bisschen Erfahrung in Erster Hilfe. Also, Herrschaften, tretet mal beiseite.«
Mit Schwung und einem großen Schwall Wasser wurde Georg an Land gezogen. Er stöhnte. Claudia zog ihr Handy hervor. Auf dem Display war es jetzt 15.52 Uhr. Sie würde sehr wahrscheinlich zu spät für das Meeting sein, aber zumindest hatte sie 50 Prozent der Mordfälle aufgeklärt. Georg stöhnte wieder und der Oberförster, der immer noch neben ihm kniete, schüttelte bedauernd den Kopf.
»Den hat’s ganz schlimm erwischt!«
»Ich ruf sofort einen Krankenwagen. Wenn ich mich hier so umschau, ist er nicht der Einzige, der ärztliche Versorgung gebrauchen kann!«
93
Es war genau 16.00 Uhr, als Maus den Besprechungsraum betrat. Verdutzt sah er sich um. Hatte er sich in der Zeit vertan? Nein, ein Blick auf die hässliche, aber zweckmäßige Wanduhr sagte ihm, dass offenbar sämtliche Mitarbeiter durch Abwesenheit glänzten. Ausgenommen Hammer – er versuchte sich, etwas verschämt, hinter dem Mechaniker zu verstecken, der in aller Seelenruhe dabei war, den Kaffeeautomaten zu reparieren – und Schnabelhuber – dieser
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