Der Semmelkoenig
aufregen sollte oder dem Kollegen mangelnde Mathematikkenntnisse in seine nächste Beurteilung schreiben sollte.
»Vor dreißg Johr? Na, dann verzähl a mal. Was war mi’m Möller?«
Der Mechaniker hatte nun geräuschvoll einen Stuhl herangezogen, sich gesetzt und wartete gespannt auf die Geschichte. Etwas irritiert schaute Schnabelhuber seinen Vorgesetzten an, aber Maus nickte zustimmend.
»Man hat sich ja viel erzählt über den, aber irgendwie is diese Episode seines Lebens in Vergessenheit geraten. Oder unter den Teppich gekehrt worden, wie man’s nimmt. Auf jeden Fall bin ich heute runter ins Archiv und hab mal die alten Akten durchwühlt und Bingo: Ich hab was gefunden!«
Obwohl Maus gerade nach dem abgenutzten Aktenordner greifen wollte, zog ihn Schnabelhuber in seiner Aufregung schnell wieder zu sich, als wäre er sein persönlicher Schatz. Andächtig strich er über den Umschlag, war zufrieden mit sich und der Welt und schien für einen Moment die anderen ausgeblendet zu haben.
»WAS?«, riefen daher seine drei genervten Zuhörer aus einem Munde. Es war schon sehr unhöflich, so auf die Folter gespannt zu werden.
»Na, dass es vor genau dreißig Jahren eine Anzeige gegen Möller wegen Vergewaltigung an einer Sandra Beck gegeben hat. Das is auf dem Frühlingsfest passiert. Es kam tatsächlich auch zu einem Prozess, aber ihr wisst ja, dass die Möllersippe einen Rieseneinfluss auf alles hat, sodass das arme Mädel dort regelrecht nochmal geopfert worden ist. Der Spieß wurde elegant umgedreht. Sie war plötzlich die Böse. Hat mit ihren sechzehn Jahren den armen Josef, der kurz vor seiner Hochzeit stand, verführt, sich an ihn rangeschmissen. Die ganze ekelhafte Palette eben und Möller ist rein und unschuldig aus der Sache rausspaziert. Des Mädel war erledigt und hatte auch noch die Schwangerschaft am Hals.«
»Ach herrje«, kam der anteilnehmende Kommentar vom Mechaniker. Auch Maus und Hammer blickten betroffen.
»Starker Tobak, was meine Herren?«
»Jetzt wo du’s grad erzählt hast, kommt mir die Geschichte auch sehr bekannt vor«, schaltete sich Hammer ein. »War da nicht noch so was, dass das Kind entweder adoptiert wurde oder gestorben ist?«
»Meine Güte. Jetzt fangen Sie bloß nicht mit alten Klatschgeschichten an. Das hilft uns hier nicht weiter.«
Maus verdrehte die Augen und wandte sich demonstrativ an Schnabelhuber.
»Wir brauchen Fakten. Das hier ist schon sehr gute Arbeit, aber wir müssen da noch mehr rausholen, also noch mehr Zusammenhänge und vor allem Beweise!«
Mit einem lauten und gefährlichen Zischen machte sich die Kaffeemaschine bemerkbar und der Handwerker musste sich, etwas missmutig wegen der Unterbrechung an der spannendsten Stelle, um seinen ungeduldigen Kunden kümmern. Da es jetzt extrem laut wurde, waren die Polizeibeamten ebenfalls gezwungen, ihre Stimmen zu erheben.
»Was mich noch interessiert …«, brüllte Maus und ignorierte den Wasserdampf, der sich in Sekundenschnelle im Raum ausbreitete, »… ist, was aus Sandra Beck geworden ist?«
»Die …«, stand ihm Schnabelhuber an Lautstärke in nichts nach, »… die hat ein paar Mal geheiratet, zwei Kinder und heißt heute Sandra Blum.«
Wie vom Donner gerührt – Schnabelhuber hatte mit Absicht den Knaller für den Schluss aufgehoben – starrte Maus den Kollegen an. Auch die Maschine schien von dieser ungeheuerlichen Neuigkeit beeinflusst worden zu sein, denn das Zischen verstummte augenblicklich und machte einem angenehmen Surren Platz. Dann hörte man ein »Klick«, ein Gluckern und den freudigen Ruf des Handwerkers.
»Meine Herren, Kaffeezeit! Wer möchte zuerst?«
Es war klar, dass Hammer sofort angeeilt kam und dankbar lächelnd den ersten Becher entgegennahm.
»Das is wirklich allerhand!«, Maus hatte die Sprache wiedergefunden. »Schnabelhuber, Sie machen sich sofort an die weitere Recherche. Ich will alles wissen, was damals passiert ist. Finden Sie heraus, ob Möller seitdem noch Kontakt zu ihr gehabt hat, und vor allem, was aus dem Kind geworden ist. Wenn es noch lebt, müsste es Ende zwanzig sein. Los, rasch, machen Sie sich an die Arbeit.«
Zum Glück war Schnabelhuber selbst vollkommen von seinem plötzlich erwachten kriminalistischen Talent begeistert und da er als Junggeselle den Samstagabend sowieso nur vor dem Fernseher verbracht hätte, erschien ihm diese wichtige Aufgabe als Ritterschlag, als Auszeichnung und als erfreuliche Abwechslung. Den Ordner unter den Arm geklemmt,
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