Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Gegenstände, Ausweispapiere und eines Teils des Vermögens der bereits genannten Opfer“. Die Anklage umfasste 20 eng beschriebene Seiten. Unter den Opfern befanden sich 15 Juden, neun Gangster, Prostituierte und von der Polizei und/oder der Gestapo gesuchte Straftäter sowie drei Personen, die nicht im Zusammenhang mit der Fluchthilfeorganisation standen: Jean-Marc Van Bever, Marthe Khaït und Denise Hotin. Ein nicht identifiziertes Opfer war die junge Frau, die Ende 1942 oder Anfang 1943 verschwunden war, und zwar bei einem Fluchtversuch aus Paris in Begleitung von „Jo, dem Boxer“.
Während der Anklageverlesung, die für die meisten Anwesenden langweilig, monoton und auf den hinteren Plätzen kaum zu verstehen war, beobachteten die Zuschauer den Angeklagten neugierig und aufmerksam. Obwohl er den Oberkörper leicht und eher provokant vorbeugte oder seinen Kopf mit einer Hand auf dem Rand der Anklagebank abstützte, strahlte Petiot durch die Körpersprache eine unverkennbare Würde und Autorität aus. Mit der hohen Stirn wirkte er wie ein Intellektueller. Die hervorstehenden Wangenknochen und die schmalen Lippen, die „wie die Klinge eines scharfen Messers“ aussahen, unterstrichen den Eindruck. Die Haare waren mittlerweile ein wenig dünner, und auf viele, wie etwa Kenneth Campbell von der New York Times , wirkte er jünger als erwartet. Die meisten betrachteten jedoch seine Hände, die laut Aussage zahlreicher Zuschauer nicht wie die eines Arztes oder Chirurgen aussahen, sondern wie die eines Würgers oder Schlachters. Eines war sicher: Die Presse würde ihren Ton bei der überzogenen Berichterstattung über den Mörder nicht ändern, egal ob nun sein Leben von dem Prozess abhing und ungeachtet der Tatsache, dass er noch gar nicht schuldig gesprochen war.
Petiot verhielt sich wie ein arroganter Star in seinem eigenen Film. Er hörte sich die Anklage an, schien aber schon jetzt gelangweilt zu sein. Mit einer Hand legte er das Haar nach hinten, kurz darauf wiederholte er die Geste mit der anderen Hand. Die dunklen Ringe unter den Augen erinnerten den Schriftsteller Jean Galtier-Boissière an das Make-up des Schlafwandlers Cesare in dem expressionistischen deutschen Film Das Cabinet des Dr. Caligari . Der Blick des Angeklagten schweifte in die Ferne und verwandelte sich manchmal in das „berühmte hypnotische Starren“, wie ein Journalist interpretierte, gerichtet auf einen bestimmten Zuschauer. Manchmal blickte er nach unten und schaute auf die Malereien, mit denen er den wenigen freien Platz der Anklageschrift „verzierte“. Wie sich herausstellte, kritzelte er Karikaturen der Ankläger auf das Papier, die sogar einem Profi zur Ehre gereicht hätten.
Während der Verlesung der Zeugenliste, die 90 Personen umfasste, stellte Verteidiger Floriot die erste Frage: „Und wie verhält es sich mit Colonel Dewavrin?“ Dewavrin war einer der wichtigsten Vertreter der Résistance, Chef des DGER, des militärischen Geheimdienstes und der Gegenspionage des freien Frankreichs. Petiot hatte den Mann während der vorgerichtlichen Vernehmung als einen wichtigen Zeugen benannt, der für seine Résistance-Aktivitäten bürgen könnte. Leser antwortete, dass sich Dewavrin „auf einer Dienstreise befindet“.
„Verraten Sie mir doch bitte, wie lange die Mission dauert“, wollte Floriot wissen.
„Das würde ich auch gerne erfahren“, stimmte Staatsanwalt Dupin zu.
Mittlerweile war es 15.15 Uhr. Nach einer scheinbar endlos anmutenden Zeit begann der Vorsitzende Leser mit der „Interrogatoire“, eingeleitet von einer detaillierten Erläuterung der Anklagepunkte und einer knappen Schilderung von Petiots Lebenslauf. Im französischen Recht spielt die Biografie des Angeklagten eine weitaus wichtigere Rolle als in anderen Ländern. Darüber hinaus befragt der Vorsitzende den Angeklagten und ist sogar befugt, die Antworten zu kommentieren. Dem Beschuldigten ist es gestattet, Aussagen der Zeugen oder des leitenden Staatsanwalts zu hinterfragen – sogar mitten in einer Aussage! Falls solche Fragen unterbunden werden, kann das als ein Verfahrensmangel eingestuft werden. Auch die Anwälte (Staatsanwaltschaft, Verteidigung) haben das Recht, jederzeit zu intervenieren. Auf einen Außenstehenden mag ein französischer Prozess ein wenig verwirrend wirken, doch das Petiot-Verfahren übertraf diese Komplikationen bei weitem und mündete in reinstes Chaos.
Leser hatte sich bei der einleitenden Darstellung von Petiots
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