Der Serienmörder von Paris (German Edition)
eine vage Aussage über eine Gräfin, der ein Besitztum nahe der Demarkationslinie gehörte und die immer mit einem Pferd zu den Treffen erschienen sei. Als diese Strategie der Befragung keine nennenswerten Erfolge brachte, sondern sich eher – wie der Prozessbeobachter Claude Bertin es umschrieb – in Richtung eines „Mantel-und-Degen-Schundromans“ entwickelte, richtete Maître Véron die Aufmerksamkeit auf Petiots Verhaftung durch die Gestapo im Mai 1943 und die fast achtmonatige Zeit im Gefängnis.
„Es war der berüchtigte Jodkum, der sich meiner annahm“, erklärte der Angeklagte. „‚Ah, Sie sind also Dr. Eugène!‘, sagte er. Und dann zerquetschte er mir den Schädel, versuchte mir den Unterkiefer auszurenken, feilte die Zähne ab, steckte mich in ein Bad mit Eiswasser und folterte mich mit ähnlichen Methoden. Ich möchte hier auf Details verzichten. Kurz gesagt, es waren die üblichen ‚Fantasien‘.“ Es folgte ein Monolog Petiots, in dem er behauptete, keinen Dank zu erwarten. Die Menschen seien von Natur aus undankbar, besonders was „die Qualen eines Helden“ anbelange. Er begann zu weinen. Urplötzlich hatte sich eine unheimliche Stille ausgebreitet, als wäre der gesamte Gerichtssaal über den emotionalen Wandel des Angeklagten zutiefst verblüfft.
Leser befragte Petiot zu der mysteriösen Entlassung aus der Gestapo-Haft im Januar 1944.
Dieser antwortete lediglich, dass sein Bruder ihn für die Summe von 100.000 Francs freigekauft habe. Unglücklicherweise übte man an der Stelle keinen größeren Druck auf ihn aus. Wie war es dazu gekommen, dass die Deutschen ihn für so eine verhältnismäßig geringe Summe entließen? Die Staatsanwaltschaft ließ sich eine weitere Chance entgehen, berechtigte Zweifel an Petiots angeblicher Résistance-Tätigkeit aufzuzeigen.
„Und was war mit den Leichen in der Rue Le Sueur?“, wollte Leser wissen.
„Ich fand einen überaus großen aufgetürmten Haufen von Leichen, als ich dorthin ging. Ich war überaus verärgert. Ich konnte doch so etwas in meinem Haus nicht dulden.“
„Baten Sie deshalb Ihren Bruder um den Löschkalk?“
„Oh, nein! Den Löschkalk benötigte ich zur Ungeziefer-Vertilgung.“ Ein Journalist bemerkte, wie Familienmitglieder der Opfer zusammenzuckten. Petiot erzählte danach von den Kameraden, die sich der Leichen nicht entledigen konnten, woraufhin er sich entschieden habe, den ungelöschten Kalk zu benutzen. Als sich die Methode als ungeeignet erwiesen habe, habe er den Ofen benutzt, den er schon angezündet hatte, um einen von Milben befallenen Teppich zu entsorgen.
Statt Petiot zu den Widersprüchen in seinen Aussagen zum Kalk weiter zu befragen, wollte Dupin erneut die Namen von Petiots Kollegen erfahren.
„Sie wissen sehr wohl, dass ich sie Ihnen nicht verraten werde“, antwortete der Angeklagte und zuckte mit den Schultern, „da Sie die Männer eh nur wegen Komplizenschaft verhaften wollen.“
„Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, dass ich sie nicht verhaften lasse.“
„Ich kenne doch das alte Lied. Sie selbst verhaften sie nicht, sondern überlassen Ihren Kumpanen die Drecksarbeit.“
Dupin machte Petiot darauf aufmerksam, dass er sich bei Nennung der Namen einen großen Dienst erweise.
„Na gut, ich werden sie Ihnen verraten – aber erst, wenn man mich freigesprochen hat.“
„Glauben Sie tatsächlich, dass man Sie freispricht?“
„Das denke ich sehr wohl. Ich habe niemals den leisesten Zweifel daran gehegt. Davon mal ganz abgesehen – Sie sind es nicht, der über mich richtet. Es sind die ehrenwerten Herren Geschworenen, zu denen ich mehr Vertrauen habe.“ Genüsslich verfolgten die Zuschauer den Schlagabtausch zwischen den beiden. Die L’Aurore paraphrasierte Petiot für die Schlagzeile der kommenden Morgenausgabe mit den Worten: „DER TOD? FÜR MICH KEINE BEDROHUNG!“
Als sich das Gericht nach der Unterbrechung wieder zusammensetzte, fanden sich noch weitere Zuschauer im Saal ein, was Petiot zur Beschwerde veranlasste, dass er keinen Platz mehr habe, um den Übermantel abzulegen. Die Befragung konzentrierte sich nun auf das erste der vermutlich 27 Opfer, Marthe Khaït, die Mutter der jungen Patientin Raymonde Baudet, die im März 1942 verschwunden war, kurz vor einer geplanten Zeugenaussage in einem Verfahren gegen Petiot, dem man Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz angelastet hatte. Véron hatte die Familie als Anwalt in Sachen Zivilrecht vertreten, nachdem er schon zuvor als
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