Der Serienmörder von Paris (German Edition)
einem Treppenabsatz vor dem Dachboden und kauerte sich in einer Ecke zusammen, wenn sich irgendwo im Haus eine Tür öffnete. Zeitweise flüchtete sie in den Hof des benachbarten Gebäudes, das ebenfalls ihrem Mann gehörte. Wegen der ständigen Angst, entdeckt zu werden, machte sie kaum ein Auge zu.
Am Montagmorgen ging sie dann erneut zum Gare de Lyon und studierte die Abfahrtszeiten. Da der nächste Zug erst um 17.20 Uhr fuhr, verbrachte Georgette einen Großteil des Tages in dem kleinen Restaurant des Hôtel Alicot in der Rue de Bercy 207. Sie kaufte sich die Fahrkarte im letzten Moment und stieg in den Zug nach Auxerre. Nach der dortigen Ankunft um 21 Uhr suchte sie unverzüglich das Appartement ihres Schwagers Maurice in der Rue du Pont auf. Dort hoffte sie, ihren Mann anzutreffen, doch das Haus war zu dem Zeitpunkt leer. Georgette wartete, verängstigt und unschlüssig, und wusste nicht, was sie jetzt unternehmen sollte.
„Vielleicht in die Rue des Lombards gehen?“, hakte Massu nach.
Der Hinweis erschütterte Georgette. Auch schien sie die Erwähnung der Adresse auf dem Zettel zu verstören, den die Beamten in der Rue Le Sueur fanden. Was danach geschah, beschrieb Massu mit Liebe zum Detail: Petiots Hand öffnete sich, das Taschentuch fiel zu Boden, und sie verlor das Bewusstsein. Es sollte nicht ihre letzte – möglicherweise vorgetäuschte – Ohnmacht mitten in einem Verhör sein.
Frauen von Kriminellen waren – wie Massu später reflektierte – schon eine ganz spezielle „Gattung“:
Es gibt Frauen, die wie ein wildgewordener Panther ihre Männer mit ausgefahrenen Klauen verteidigen, Frauen, die sich kalt und unsensibel geben, denen man jede Information abringen und mit denen man jedes Argument diskutieren muss. Sie beantworten Fragen mit Gegenfragen. Aber es gibt auch Frauen, die die ganze Nacht über kein Wort sagen, obwohl sie vom grellen Licht einer Lampe geblendet werden. Gelegentlich begegnet man Frauen, die zutiefst erschüttert sind und voller Widerwillen erkennen, jahrelang neben einem Monster gelebt zu haben …
In welche Kategorie konnte man Georgette Petiot einordnen? Und wie stand es um Maurice? Massu setzte alles daran, das herauszufinden.
Der Kommissar leitete die erste Befragung von Maurice durch eine Klärung des familiären Hintergrunds ein und fand heraus, dass er, wie auch sein älterer Bruder, von der Tante Henriette Gaston aufgezogen und dem nun verstorbenen Onkel Vidal Gaston unterrichtet worden war. Die Brüder Petiot verband lange ein enges Verhältnis, sie hatten sich aber in den frühen Dreißigern auseinanderentwickelt. Seine Beziehung und die darauf folgende Heirat mit Monique hatten das Verhältnis „ein wenig abgekühlt“, wie er es darstellte. Nach der Hochzeit am 22. September 1934 unterhielten sich die Brüder fünf Jahre lang dann überhaupt nicht mehr miteinander. Nach dem Exodus im Sommer 1940 war Maurice nach eigenen Angaben wieder nach Hause zurückgekehrt und fand heraus, dass sein Warenlager geplündert worden war. Daraufhin unternahm er zur Aufstockung der Vorräte regelmäßige Reisen nach Paris, dank derer die Beziehung der Brüder zueinander wieder besser wurde. „Bei jedem Aufenthalt aß ich bei ihm zu Mittag“, schilderte Maurice die damalige Zeit und erzählte, dass darauf oft noch ein Abendessen mit Marcel, seiner Frau und dem Sohn folgte. Meist hielt er sich zweimal in der Woche in der Hauptstadt auf. Massu wollte wissen, was Maurice über die Rue Le Sueur Nummer 21 sagen könne.
Maurice erinnerte sich daran, dass sein Bruder – eventuell war es auch Georgette gewesen – irgendwann, möglicherweise 1942, über den Erwerb einer neuen Immobilie in Paris geredet hatte. Er versuchte Massu mit aller Überzeugungskraft zu vermitteln, dass sich seine Informationen zu dem Thema darauf beschränkten. „Ich wusste nicht, in welcher Straße das Haus lag, und bin niemals dort gewesen.“
Als der Kommissar ihn unter Druck setzte, änderte Maurice die Aussage. Ja, er kenne die Adresse und sei dort tatsächlich drei oder vier Mal gewesen. Im Juli oder August habe er die von Ungeziefer befallenen Möbel und Teppiche mit Schädlingsbekämpfungsmittel behandelt, wenige Monate darauf, wahrscheinlich im Dezember 1943, dann das Wasser abgestellt, da die Leitung durch den plötzlichen Wintereinbruch geborsten war. Im Jahre 1944 besichtigte er das Haus mit einem Architekten das angeblich letzte Mal, um mögliche Risse zu entdecken, da in ein benachbartes
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