Der siebte Schrein
Zentimeter über dem Boden in die Mauer gehauen worden waren. »Dienten die dazu, Opfergaben hineinzuschieben?«
»Genau.« Magadone Sambisa glitt mit der Fackel die Reihe von links nach rechts entlang. »Wir haben in mehreren mikroskopische Spuren vertrockneter Blumen gefunden, Scherben von Tongefäßen und bunte Perlen und anderes - man kann sie sogar immer noch sehen. Und die Überreste einiger Tiere.« Sie zögerte. »Und dann, im Alkoven ganz links . . .«
Der Fackelschein kam auf einem Stern aus gelbem Klebeband an der Rückwand des flachen Alkovens zur Ruhe.
Valentine stöhnte schockiert. »Da?«
»Huukaminaans Kopf, ja. Fein säuberlich in der Mitte des Alkovens plaziert. Eine Art Opfergabe, nehme ich an.«
»Für wen? Für was?«
Die Archäologin zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
Dann sagte sie unvermittelt: »Wir sollten jetzt wieder nach oben gehen, Euer Majestät. Die Luft hier unten ist nicht gut genug, um längere Zeit darin zu verbringen. Ich wollte Euch einfach nur zeigen, wo der Schrein liegt. Und wo wir den fehlenden Teil von Dr. Huukaminaans Leichnam gefunden haben.«
Später an diesem Tag zeigte Magadone Sambisa Valentine, diesmal in Begleitung von Nascimonte und Tunigorn und den anderen, die Stelle der anderen bedeutenden Entdeckung der Expedition: den bislang unbekannten bizarren Friedhof, wo die urzeitlichen Bewohner von Velalisier ihre Toten begraben hatten.
Oder, genauer gesagt, bestimmte Teile ihrer Toten bestattet hatten. »Es scheint auf dem gesamten Friedhof nicht einen vollständigen Toten zu geben. In jedem Grab, das wir geöffnet hatten, haben wir nur winzige Stücke gefunden - hier einen Finger, dort ein Ohr, eine Lippe, einen Zeh. Manchmal sogar ein inneres Organ. Jedes Stück sorgfältig einbalsamiert, in einen wunderschönen Sarg aus Stein gelegt und unter einem dieser Grabsteine begraben. Der Teil für das Ganze: eine Art von metaphorischer Bestattung.«
Valentine sah sich verwundert und voller Staunen um.
Der zwanzigtausend Jahre alte Friedhof der Metamorphen bot einen der merkwürdigsten Anblicke, die er in all den Jahren gesehen hatte, seit er die Myriaden wundersamer Merkwürdigkeiten erforschte, die Majipoor zu bieten hatte.
Der Friedhof umfaßte ein Gebiet, das kaum mehr als dreißig Meter lang und zwanzig Meter breit war und in einem einsamen Bezirk mit Dünen und Gräsern kurz hinter dem Ende der Prachtstraße von Norden nach Süden lag. Auf diesem winzigen Areal mochten sich gut und gerne zehntausend Gräber befinden, alle dicht gedrängt. Eine kleine Stele aus braunem Sandstein, von der Breite einer Hand und etwa fünfzig Zentimeter hoch, ragte von jeder Grabparzelle auf. Und jede grenzte unmittelbar an die benachbarten an, in einem wilden Durcheinander, so daß der Friedhof eine dichte Zusammenballung von schlanken, eng beisammen stehenden Grabsteinen bildete, die sich auf eine Weise, die das Auge vollkommen verwirrte, hierhin und dorthin neigten.
Einst mußte jeder Stein liebevoll in einer vertikalen Position über dem Sarg mit dem Teil des Verstorbenen, das zur Bestattung ausgewählt worden war, angebracht gewesen sein. Aber die Metamorphen von Velalisier hatten im Lauf der Jahrhunderte offenbar immer mehr und mehr Verstorbene in diesem kleinen Bestattungsbezirk zusammengepfercht, bis jedes Grab die anderen in chaotischster Weise überlappte. Dutzende drängten sich auf jedem Quadratmeter des Terrains.
Als man die Grabsteine weiterhin zusammengepfercht hatte, ohne Rücksicht darauf, welchen Schaden jedes neue Grab den bereits existierenden zufügte, wurden die älteren von ihren neuen Nachbarn aus der Reihe gedrängt. Die schlanken Steine neigten sich in alle Richtungen, so daß die Grabstätte aussah wie ein Wald, über den ein verheerender Sturm hinweggezogen ist, oder ein Boden, den ein schreckliches Erdbeben aufgeworfen und durchgeschüttelt hat. Jetzt standen sie alle in schiefen Winkeln, und keine zwei neigten sich in dieselbe Richtung.
In jeden dieser kleinen Grabsteine war ein einziges elegantes Schriftzeichen in exakt einem Drittel der Gesamthöhe von oben aus gemeißelt worden, ein kunstvoll verschnörkeltes Zeichen, wie man sie auch in anderen Bereichen der Stadt fand. Kein Symbol schien dem anderen zu gleichen. Stellten sie die Namen der Verstorbenen dar? Gebete an einen längst vergessenen Gott?
»Wir hatten keine Ahnung, daß das hier war«, sagte Magadone Sambisa. »Dies ist die erste Begräbnisstätte, die in Velalisier
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