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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sich vorbeugte und das Messer aus Drugens Leiche zog. Er drehte sich um, als die Stimme eines Mädchens wiederholte: »Nein!«
    »Du hast ihn getötet!« schrie Anika und rannte auf Dirk zu. Der verwirrte Junge war nicht sicher, was vor sich ging. Er versuchte, sich zu konzentrieren, aber alles um ihn herum drehte sich. »Ich . . .«, begann er, aber das Mädchen schien ihn förmlich anzuspringen.
    »Du hast ihn getötet!« schrie sie wieder, als sie sich auf ihn stürzte. Er wich zurück, stolperte mit der Ferse über Drugens Leiche und fiel hin, und plötzlich war das Mädchen auf ihm. Sie landete mit dem ganzen Gewicht auf Dirk, und ihre Augen waren im Schock weit aufgerissen. Sie stemmte sich von Dirk hoch und sah zwischen ihnen beiden nach unten.
    Dirk folgte ihrem Blick und sah, daß er das Messer noch in der Hand hielt. Anika hatte sich die Klinge selbst in den Leib gerammt. Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, sie sah ihn prüfend an und sagte schließlich leise: »Der Holzjunge?«
    Sie fiel auf Dirk. Er schob sie beiseite, hielt sie aber in den Armen, sank in den Schnee und hielt sie immer noch. Sie sah mit glasigen Augen zum Himmel, und er schloß sie sanft.
    Dann spürte Dirk glühende, stechende Schmerzen in der Seite, Erbrochenes stieg ihm im Hals empor, und ihm wurde bewußt, daß er sich irgendwie eine Stichwunde zugezogen hatte. Er berührte die Wunde, heiße Schmerzen schossen durch seinen ganzen Körper, und vor seinen Augen schien alles zu verschwimmen. Er wußte, er konnte sich nicht bewegen, solange das Messer noch da war, und hob die Hand, um es wieder am Griff zu packen. Er nahm alle Kraft zusammen, zog das Messer aus seiner Seite und schrie vor Schmerzen. Nach einem Augenblick ließen die Schmerzen nach und wichen pochender Qual, die ihm aber nicht das Gefühl gab, als müßte er sterben. Er stand langsam auf und drehte sich zu dem Mädchen um. Dann verlor er das Bewußtsein.
     
    Borric sagte: »Sie hat ihm geholfen, ihren Vater und alle anderen zu töten?«
    »Das glaube ich nicht, Herr.« Traurig fügte Dirk hinzu: »Ich glaube, Drugen hat sie überlistet und dazu gebracht, sich ihm anzuvertrauen und ihm zu sagen, wo das Gold ihres Vaters versteckt war. Sie war ein unschuldiges Mädchen, und er war ein Weiberheld, der vielen Frauen den Hof gemacht hat. Wenn er alle getötet hat, ohne Anika zu wecken, und sie dann in die Felle gewickelt und direkt zum Schlitten getragen hat, dann konnte sie es nicht sehen. Wenn sie die Freistädte hinter sich gelassen hätten, hätte sie die Wahrheit nie erfahren.« Er sah aus, als würde er gleich weinen, sprach aber mit fester Stimme weiter: »Sie stürzte sich entsetzt auf mich, und ohne zu wissen, was zu Hause passiert war. Sonst wäre sie nicht so erschüttert über Drugens Tod gewesen, da bin ich sicher. Ihr Tod war ein Unfall, aber allein meine Schuld.«
    »Dich trifft keine Schuld, Junge. Es war, wie du gesagt hast, ein Unfall.« Nach einem Augenblick nickte Borric. »Ja, es ist besser, wenn man es so sieht. Junge, warum bist du hierher gekommen?«
    »Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte. Ich dachte mir, wenn Drugen hierher kommen wollte, könnte ich es auch tun. Ich wußte, die Tsurani würden das Gold meines Herrn nehmen und mich wahrscheinlich aufhängen . . . an etwas anderes konnte ich nicht denken.«
    »Das hast du gut gemacht«, sagte Borric leise.
    Dirk stellte den Becher weg und sagte: »Das hat gutgetan. Danke, Herr.« Er bewegte sich und zuckte zusammen.
    »Schmerzt dich die Wunde?«
    »Ich habe sie so gut wie möglich verbunden, Herr.«
    Borric rief eine Ordonnanz und gab dem Mann Anweisung, den Jungen zum Zelt des Heilers zu bringen und die Wunde versorgen zu lassen.
    Als Dirk gegangen war, sagte der Kapitän: »Das war eine wilde Geschichte, Euer Gnaden.«
    Borric stimmte zu. »Der Junge hat Mut.«
    »Hat es das Mädchen gewußt?« fragte der Kapitän.
    »Natürlich hat sie es gewußt«, sagte Borric. »Ich kannte Paul von Weißbergen; ich habe über Talbot Kilrane, meinen Agenten in Bordon, Geschäfte mit ihm gemacht. Ich war bei ihm zu Hause, und er war in Crydee. Und ich kannte die Tochter.« Borric seufzte, als würde ihn der Gedanke müde machen. »Sie ist im selben Alter wie meine Carline. Und sie sind so verschieden, wie zwei Kinder nur sein können. Anika war zur Ränkeschmiedin geboren.« Borric seufzte erneut. »Ich habe keinen Zweifel, daß sie das alles geplant hatte, aber wir werden nie erfahren, ob sie die

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