Der siebte Schrein
»Papa.«
Er war zu weit weg, um sie zu hören, hörte sie aber trotzdem.
Zedd drehte sich um, fast überlebensgroß inmitten seiner Magie, die Abby sehen, aber nicht ansatzweise ergründen konnte, aber zugleich klein in seiner Schwachheit menschlicher Bedürfnisse. Tränen traten ihm in die Augen, als er seine Tochter neben Abby stehen sah. Dieser Mann, der sich mit den Geistern zu beraten schien, sah aus, als hätte er zum erstenmal wahrhaftig eine Erscheinung gesehen.
Zedd sprang von dem Felsen und watete durch das Wasser. Als er bei ihr war und sie in seine Arme schloß, fing sie schließlich an zu weinen, als ihre aufgestaute Angst sich Luft machte.
»Schon gut, Liebes, schon gut«, tröstete Zedd sie. »Jetzt ist Papa hier.«
»Oh, Papa«, sagte sie schluchzend an seinem Hals, »sie haben Mama weh getan. Sie waren böse. Sie haben ihr so weh getan . . .«
Er brachte sie zärtlich zum Schweigen. »Ich weiß, Liebes. Ich weiß.«
Jetzt erst bemerkte Abby, daß die Hexenmeisterin und die Mutter Konfessorin auf der Seite standen und zusahen. Auch sie vergossen Tränen bei dem Anblick. Obwohl Abby sich für den Zauberer und seine Tochter freute, machte das Bild die Schmerzen in ihrer Brust, die sie angesichts ihres Verlustes empfand, nur noch schlimmer. Ihre Tränen erstickten sie fast.
»Alles wieder gut, Liebes«, murmelte Zedd. »Jetzt bist du in Sicherheit. Papa wird nicht zulassen, daß dir etwas geschieht. Jetzt bist du in Sicherheit.«
Zedd drehte sich zu Abby um. Bis er ihr, unter Tränen lächelnd, seine Dankbarkeit gezeigt hatte, war das Kind eingeschlafen.
»Ein kleiner Zauber«, erklärte er, als Abby verblüfft die Stirn kraus zog. »Sie muß ausruhen. Und ich muß zu Ende bringen, was ich angefangen habe.«
Er legte Abby seine Tochter in die Arme. »Abby, würdest du sie zu deinem Haus bringen, damit sie schlafen kann, bis ich hier fertig bin? Bitte leg sie ins Bett, und deck sie zu, damit sie es warm hat. Vorläufig wird sie schlafen.«
Abby, die daran denken mußte, daß sich ihre eigene Tochter in den Händen der Schurken auf der anderen Seite des Flusses befand, konnte nur nicken und sich auf den Weg machen. Sie freute sich für Zedd und verspürte sogar Stolz, weil sie sein kleines Kind gerettet hatte, aber als sie zu ihrem Haus lief, brachte sie der Kummer darüber, daß es ihr nicht gelungen war, ihre eigene Familie zu retten, fast um.
Abby ließ das reglose, schlafende Kind auf das Bett gleiten. Sie zog den Vorhang des kleinen Fensters im Schlafzimmer vor, und weil sie nicht anders konnte, strich sie das seidige Haar zurück und drückte einen Kuß auf die weiche Stirn, ehe sie das Kind seinem gesegneten Schlaf überließ.
In dem Bewußtsein, daß das Kind in Sicherheit war und schlief, rannte Abby den Hang hinunter zum Fluß. Sie wollte Zedd bitten, ihr ein wenig Zeit zu geben, damit sie noch einmal zurückkehren und nach ihrer eigenen Tochter suchen konnte. Aus Furcht um Jana klopfte ihr Herz wie wild. Er stand in ihrer Schuld und hatte sie noch nicht beglichen.
Abby blieb händeringend und keuchend am Ufer stehen. Sie betrachtete den Zauberer auf seinem Felsen im Fluß, wo Licht und Schatten um ihn kreisten. Sie hatte genug mit Magie zu tun gehabt, um sich darüber im klaren zu sein, daß sie ihm nicht näher kommen durfte. Sie konnte den Singsang seiner Worte hören; auch wenn es Worte waren, die sie nie zuvor gehört hatte, erkannte sie die eigentümlichen Worte eines Zauberspruchs - Worte, die furchterregende Mächte herbeiriefen.
Auf dem Boden neben ihr befand sich die seltsame Grazie, wie er sie schon einmal gezeichnet hatte, die die Welten von Tod und Leben überbrückte. Die Grazie war aus funkelndem, blendend weißem Sand gebildet, der sich deutlich auf dem dunklen Schlamm abzeichnete. Abby erschauerte allein vom Hinsehen und hütete sich, über ihren Sinn nachzudenken. Um die Grazie herum waren mit demselben funkelnden weißen Sand die geometrischen Figuren magischer Beschwörungen gezogen worden.
Abby ließ die Fäuste sinken und wollte gerade nach dem Zauberer rufen, als Delora sich zu ihr beugte. Abby zuckte überrascht zusammen.
»Nicht jetzt, Abigail«, murmelte die Hexenmeisterin. »Stör ihn nicht mitten in diesem Teil!«
Widerwillig befolgte Abby den Rat der Hexenmeisterin. Auch die Mutter Konfessorin war da. Abby biß sich auf die Unterlippe, als sie den Zauberer die Arme heben sah. Funken bunten Lichts strömten über die wallenden Säulen der Schatten.
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