Der siebte Turm 03 - Aenir - Reich der Schatten
abgelenkt. Sie hatte ihr wahres Ziel aus den Augen verloren und jetzt hatte diese Schwäche ihren Wunsch zunichte gemacht, eine Schildjungfrau zu werden. Sie hatte mit ihrem übertriebenen Stolz und ihrem überzogenen Ehrgeiz ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt und dabei ihren Schatten verloren. Sie hatte der Welt – und sich selbst – gezeigt, dass sie nicht würdig war, eine Schildjungfrau zu werden.
Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich zurückkehren musste, den Sonnenstein abliefern und dann… würde das Eis über sie richten.
Also musste sie Odris‘ Hilfe annehmen, zumindest vorerst.
„Wo ist die Enklave der Erwählten?“, fragte Milla. „Weißt du es?“
„Ich habe Reisende davon sprechen hören und es sind schon Erwählte zu unserem Hügel gekommen, um Leben im Tausch gegen Dienste anzubieten“, sagte Odris. „Ich glaube, sie liegt weit im Nordosten.“
„Wie weit?“
„Viele Tage für mich, sogar auf dem Wind“, sagte Odris. „Ich kann dich jeden Tag eine Weile tragen, doch für mehr reichen meine Kräfte nicht aus.“
„Wo ist Osten?“, fragte Milla langsam. Sie hasste es, die Himmelsrichtungen nicht selbst zu kennen.
„In dieser Richtung.“ Odris schob ihre Arme hervor, um es ihr zu zeigen. „Siehst du den hellen Stern am Himmel, der ganz allein steht? Den, der leicht blau leuchtet? Das ist Norrin, der traurige Stern des Ostens, der weint, weil er allein ist.“
„Was? Er kann weinen? Weshalb ist er blau?“
„Das ist nur eine Geschichte!“, lachte Odris. „Sterne sind weit entfernte Sonnen. Ich weiß nicht, warum dieser blau ist. Aber Norrin zeigt dir immer den Weg nach Osten.“
„Ich weiß nichts über Sterne “, erklärte Milla. „Wir haben keine.“
„Ah, ich habe schon vom Schleier gehört“, sagte Odris. „Es muss eigenartig sein, immer in der Dunkelheit zu leben.“
Milla schwieg. Die Dunkelwelt war für sie nicht eigenartig, doch jetzt dachte sie zum ersten Mal darüber nach, weshalb es so war. Der Schleier war nicht natürlich. Er war erschaffen und am Himmel angebracht worden, um das Licht abzuhalten. Wer hatte ihn erschaffen? Und weshalb?
„Ich werde jetzt schlafen“, sagte Milla. „Wirst du auf mich Acht geben? Ich werde meine Atemzüge zählen und wach werden, wenn ich an der Reihe bin.“
„Schlaf einfach, so lange du willst!“, ermutigte Odris sie. „Sturmhirten schlafen fast nie. Wir haben lange genug über und um den alten Hrigga-Hügel herum gedöst, ich bin ausgeruht. Schlaf.“
„Das Klammerding ist weg, oder nicht?“, fragte Milla.
Sie ließ ihren Sonnenstein aufleuchten und suchte aufmerksam das umliegende Gras ab. Es war beruhigend braun und uneben, doch als sie sich hinlegte, überkam sie doch ein leichter Anflug von Angst. Es war ein seltsames Gefühl, ohne ihre schweren Felle zu schlafen.
Milla versicherte sich, dass ihr Schwert unter ihrer Hand lag. Dann begann sie damit, sich zu sagen, dass sie nach vierzehnhundert Atemzügen aufwachen würde.
Als sie so weit war, schlief sie schnell ein.
Odris gähnte und war über sich selbst überrascht. Um wach zu bleiben, stieg sie in die Luft. Sie hatte eigentlich nicht erwartet, müde zu werden, doch es erschien logisch. Sie spürte Millas Schatten in sich und damit die Verbindung, die sie jetzt zu dem schlafenden Eiscarl-Mädchen hatte.
Odris spürte auch einen Teil von Millas Träumen. Es war wie etwas, was sie aus dem Augenwinkel sah. Sie sah immer wieder fließende Bilder von riesigen Eisflächen, von seltsamen Kreaturen, von Männern und Frauen in Fellen und von einem Schiff…
Odris blinzelte und verdrängte die Bilder. Dann flog sie in einem weiten Kreis umher, um wach zu bleiben. Von dem Klammerding war nichts mehr zu sehen, doch in Aenir gab es eine Menge anderer Kreaturen, die sich nachts herumtrieben. Odris ließ ein paar kleine Blitze aus ihrer Hand aufzucken und beobachtete den Boden.
Sie durfte nicht einschlafen. Ihre Begleiterin vertraute ihr.
KAPITEL SIEBEN
Als Tal aufwachte, schwebte Adras über ihm und verdeckte die Sonne. Anhand der Temperatur und der Höhe der Sonne schätzte Tal, dass es später Morgen war. Er sah sich um. Das Gras wehte in der leichten Morgenbrise. Er seufzte.
Sein Nacken schmerzte. Von Milla und Odris war nichts zu sehen.
Vielleicht hätte er ja doch etwas anderes tun können, dachte er, als er seinen Nacken massierte. Doch auch jetzt fiel ihm nichts ein. Außerdem: Was getan war, war getan.
Das Wichtigste war jetzt
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