Der siebte Turm 03 - Aenir - Reich der Schatten
Beine den Boden berührten. Da sie recht schnell flogen, tat das ziemlich weh. Milla bemerkte, dass Odris anscheinend den Wind beeinflussen konnte, denn er wehte immer hinter ihnen in die Richtung, die die Sturmhirtin eingeschlagen hatte.
Das Gras dehnte sich weit vor ihnen aus. Odris sank immer öfter ab und Millas Füße begannen zu schmerzen. Irgendwann sah sie einen kleinen See vor sich. Einen unregelmäßigen Fleck, der blau in der Sonne glitzerte und vielleicht so groß wie ein ausgewachsenes Selski war. Er hatte sogar eine ähnliche Form.
„Setz mich ab“, befahl Milla.
Odris gehorchte wieder schweigend. Sie setzte Milla sanft am Ufer des kleinen Sees ab und schoss dann ungefähr fünfzig Spannen senkrecht nach oben, um sich auszuruhen.
Milla betrachtete das Wasser aufmerksam. In ihrer Welt war offenes Wasser gleichermaßen selten wie gefährlich. Abgesehen von ein paar Flecken in der Nähe heißer Quellen gab es Wasser nur dort, wo das Lebende Meer der Selski auf die Slepenish traf, die sich durch das Eis bohrten. Das Ergebnis einer solchen Begegnung war immer eine weite Fläche aus gebrochenem Eis und unruhigen Wassern.
Doch dieses Wasser war überaus klar. Milla konnte bis auf den sandigen Grund sehen. Es gab keine Anzeichen von Fischen, dafür aber wuchsen dort unten kleine Büsche irgendeines Wasserkrauts.
Dennoch blieb Milla auf der Hut. Sie zog ihr Schwert aus Merwin-Horn und hielt es in der rechten Hand, während sie sich hinkniete, um mit der linken Hand etwas Wasser aufzunehmen.
Als ihre Finger die Oberfläche berührten, zitterte das Wasser plötzlich und eine Welle rollte heftig ans Ufer. Milla zuckte zusammen und zog mit gehobenem Schwert die Hand zurück.
Das Wasser strudelte weiter. Dann erhob sich eine große Form aus der Mitte des Sees. Einen Moment dachte Milla, dass es so etwas wie ein auftauchendes Merwin war. Dann erkannte sie, dass es einfach nur noch mehr Wasser war – Wasser, das Gestalt angenommen hatte.
Eine Sekunde später wurde ihr klar, dass es eine Nase war. Daneben gab es zwei schwarze Löcher, die die Augen sein mussten, und zwei Augenbrauen aus dunklerem, grünen Wasser.
Das Wasser des Sees hatte die Form eines riesigen Gesichts angenommen.
Der Mund war nur ein paar Spannen von der Stelle entfernt, an der Milla gekniet hatte. Er öffnete sich. Wasser stieg hoch, um Lippen zu formen. Im gleichen Augenblick wurde es zurückgespült und bildete einen Schlund.
Die Lippen bewegten sich und ein gurgelndes Röhren drang hervor, begleitet von feinen Wasserperlen, die über Milla abregneten. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass das Gurgeln eine Sprache war, die sie sogar verstehen konnte.
„Wer kommt, um mein Blut zu nehmen?“
Milla gab keine Antwort. Sie ging ein paar Schritte zurück. Das Ganze erinnerte nur allzu deutlich an den alten Hrigga-Hügel und die Aufforderung der Sturmhirten.
Als sie zurückwich, schoss plötzlich ohne ihr Zutun ihre linke Hand nach vorn. Milla verzog das Gesicht, als die Bewegung durch ihre Schulter fuhr. Es fühlte sich so an, als würde ein unsichtbares Seil an ihrer Hand ziehen. Doch sie sah nichts als ein paar Wassertropfen an der Stelle, wo sie die Finger in den See getaucht hatte.
„Wer kommt, wer kommt, um mein Blut zu trinken?“, fragte das Gesicht im Wasser wieder. „Willst du denn schon so früh abtreten?“
Milla zerrte an ihrer Hand, doch sie ließ sich nicht zurückziehen. Hier war irgendeine Magie in Gang, die durch das Wasser funktionierte, das an ihren Fingern hing.
Einen Moment zog Milla in Erwägung, ihre Hand abzuschlagen. Doch das würde ihre Chance verringern, lange genug zu überleben, um zum Ruinenschiff zurückzukehren und den Sonnenstein abzuliefern. Vielleicht müsste sie es noch tun, doch zuerst wollte sie alles andere versuchen.
Milla sah nach oben, aber Odris war noch immer weit weg. Entweder zog die Sturmhirtin absichtlich die Zeit in die Länge, bis sie ihr helfen würde, oder sie war wegen Millas unfreundlichem Benehmen beleidigt.
„Ich bin Milla.“ Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Herkunft genau auszuführen. All die Namen würden diesem seltsamen Wassergeist ohnehin nichts bedeuten. „Was willst du von mir?“
„Ah, sie spricht“, sagte das Gesicht. Der See richtete sich jetzt auf, um sie anzusehen. „Ich will nichts weiter als ein wenig Unterhaltung, um mir all die langen Tage zu verkürzen. Hier ist es sehr langweilig und es ist mir verboten, in interessantere Gegenden
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