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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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— damals das Nonplusultra für Klangqualität, den Lautsprecher mit Schallwand und das Allerwichtigste: die Verstärkerröhre UCL11. Ohne sie ging nichts. In Münchens Stromversorgung herrschte nämlich heilloses Durcheinander. Hatte ein Haus 110 Volt Gleichstrom, floß im Nachbarhaus schon 220 Wechselstrom aus der Steckdose .
    »Es ist entsetzlich, aber wahr«, sagte Boris später, »nur ein Krieg schafft da Ordnung .«
    Mit zwei Klemmen, ohne Sicherung, schloß er seine Stimmungsartillerie und alle mitgebrachten Nachttischlampen an das Erdkabel an. Für Luftzirkulation hatten Putzi und ihre Helfer bereits beim Saubermachen gesorgt. Ungefähr sechzig Gäste in idealer Geschlechterproportion, die Abwärme aus dem Schutt und heiße Musik sorgten für eine brodelnde Nacht. Die Freude, noch am Leben zu sein, sich unter Freunden endlich ohne Feind hört mit austoben zu können, steigerte das Fest zu einer Orgie von Glück. Und das mitten im Krieg. Der Keller konnte einstürzen, eine Bombe einschlagen, denn die Luftschutzsirenen hörte hier niemand. Die Gastgeberin hat recht, wenn sie rückblickend sagt: »Ein Tanz unter dem Vulkan .«
    Mitternacht war längst vorbei. Zufrieden mit der angeheizten Stimmung stieg der Discjockey die Kellertreppe hinauf, um Luft zu schnappen. Unbeabsichtigt kam er anderswo heraus als erwartet, mitten im Trümmerfeld. Es war sternenklar, kalt und irgend etwas stimmte nicht. Damals roch man das. Da waren plötzlich Leute rund um den Schuttberg, Leute, die sich merkwürdig bewegten, so als suchten sie etwas. Das taten sie auch. Sie konnten sich nicht erklären, wo die Musik herkam, die sie hörten, wilde, verbotene Musik, sogar mit englischem Gesang. Hörte hier ein Lebensmüder Feindsender?
    Zum Glück hatten sie Boris noch nicht entdeckt. Schleunigst stieg der wieder hinunter und senkte den Lautpegel. Niemand begehrte auf. Lärm war nicht ausschlaggebend, die Stimmung wurde dadurch nicht gedämpft. Ohne Protest nahm man zur Kenntnis, daß es jetzt eben leiser zuging. Nur einer, der die sorgfältige Feineinstellung beobachtet hatte, fragte nach dem Grund. Boris erklärte, worauf der junge Mann zusammenzuckte. »Um Gotteswillen! Das sind Spitzel. Hier in der Nähe ist eine Nazidienststelle .« Um keine Panik zu verursachen, sprachen die beiden mit niemandem darüber. Boris drosselte die Lautstärke noch mehr, leitete mit weniger aggressiven Rhythmen in die zärtliche Phase über und steuerte das Fest langsam dem Ende zu. Vor Morgengrauen mußten alle weg sein. Unauffällig weihten die beiden einige Freunde ein. Es ging darum, den Auszug leise und fließend zu gestalten, möglichst einzeln oder paarweise und in verschiedene Richtungen. Keinesfalls in Gruppen. Dank der verinnerlichten Stimmung gelang das Kunststück. Unbehelligt kamen die Nichtsahnenden wohlbehalten nach Hause.

Besser Leben

    D as Jahr 1946 war das Jahr der Geige. Nie zuvor und nicht danach sah man derart viele Fiedler mit schwarzen Kästen, zu Fuß, auf dem Fahrrad, seltener in der Straßenbahn. Für diese Form beschleunigter Fortbewegung brauchte man einen Berechtigungsausweis. Dieser galt für acht Fahrten im Monat und wurde mit den Lebensmittelkarten ausgehändigt. Doch das war nicht der Grund. Die Nachkriegsgeiger mieden Gedränge, auch trugen sie ihren Kasten auffallend anders. Nicht am Griff, sondern vertikal unter den Arm geklemmt, oder beidhändig, manche im Rucksack.
    Es schien sich um stradivariverdächtige Kostbarkeiten zu handeln, mit denen sie zur Violinstunde oder zur Orchesterprobe strebten, die außerhalb der Stadt abgehalten wurden. Verständlich. Bei den beengten Wohnverhältnissen konnte niemand zu Hause üben. Die Violinstunde auf dem Lande hatte Epidemiecharakter. Auf Feldwegen wimmelte es förmlich von radelnden Geigern, als kenne das Kulturbedürfnis keine Grenzen.
    Warum aber beschränkte es sich in seiner musikalischen Spielart auf ein einziges Instrument? Warum sah man keine Koffer für Trompeten, Hörner, Posaunen? Es gab sie, vereinzelt, etwa bei Beerdigungen, vornehmlich in der Stadt, Hie und da ließ sich ein Guitarrenkasten entdecken, doch das waren Ausnahmen.
    Der Normalverbraucher betätigte sich als Normalgeiger. Wie gesagt 1946. Genau genommen geigte er nur einen Sommer. Bis die Militärpolizei auf den Gedanken kam, dieser musischen Welt einmal in die Kästen zu gucken. Ihr gingen die Augen über. Unten, im bauchigen Teil ein rundes Bauernbrot formgerecht in der Plüschpracht, oder ein

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