Der Sieg nach dem Krieg
amüsieren statt zu diskutieren, und nahmen alles so leicht wie möglich. Wir feierten die Feste nicht nur wie sie fielen, wir brachen sie vom Zaun, eines nach dem anderen. Und keines war langweilig. Nicht zuletzt verdankten wir das der heiteren Bereitschaft und den technischen Fähigkeiten eines Schwaben mit russischem Vornamen: Boris.
Über einen gemeinsamen Vorfahren namens Andreae im 16. Jahrhundert war er mit dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss verwandt. Boris, die Galionsfigur durchtanzter Nächte, lieferte das Lebensgefühl. Erbrachte Swing in die Bude. Ein abgeschlossenes Studium der Elektrotechnik befähigte ihn zu genialen Improvisationen am Rande von Kurzschluß und Legalität. Weil ihm während des Krieges die zickige Unterhaltungsmusik des Reichsrundfunks mißfiel, hatte er sich einen Plattenspieler mit starkem Motor besorgt und dazu ein sogenanntes Schneidegerät. Bei der Herstellung von Benzin fiel Abfall an, ein Kunststoff namens Decelit, aus dem Platten hergestellt wurden, die man kaufen konnte. Boris schnitt auf Decelit fleißig Sendungen von BBC London mit. Aus diesem Fundus mit Benny Goodman, Harry James, Tommy und Jimmy Dor- sey, Gien Miller, Louis Armstrong und wie sie alle heißen, bestritt er unsere Feste, mehr noch: durch wohlüberlegte Reihenfolge der ausgesuchten Stücke gestaltete er die Stimmungskurve. Er brachte uns, nach eigenen Worten, in eine gewisse emotionale Ordnung. Das Denkmal für den ersten Discjockey im Nachkriegsdeutschland gebührt ihm. Ausgebrochen war der Nachholbedarf an Fröhlichkeit schon früher. Im Juni 1944 wurde bei einem Bombenangriff das Anwesen Franz-Josephstraße 41 getroffen. Es war ein herrschaftliches Wohnhaus gewesen, mit fünf Etagen und einer prächtigen Eingangstür, die beim Öffnen den Anfang des Rosenkavalierwalzers quietschte: da-di-diii, d-di-diii. Hier hatte, bei ihrer Großmutter im zweiten Stock, ein Mädchen gewohnt, das den Fernsehenden durch Robert Lembkes Ratespiel bekannt geworden ist: Anette von Aretin, unter Freunden Putzi genannt.
Da nur Brandbomben gefallen waren — man vermerkte das dankbar — und kein Wasser zum Löschen mehr floß, konnte ein Teil der Möbel und des Hausrats unbeschädigt auf den Hof geschleppt werden; das Haus brannte langsam hinterher. Ein Major, bei dem die junge Dame dienstverpflichtet war, schickte einen Lastwagen mit zwei Soldaten zum Abtransport.
Ende September — man war bei Verwandten auf dem Land untergekommen — vermißte die Großmama plötzlich eine Rokokokonsole. Sie habe im Keller gelegen, wo man seine Rokokokonsolen eben hat, und habe möglicherweise sozusagen überlebt. Die Enkelin versprach nachzusehen und begab sich in die ehemalige Straße. Wie aber sich zurechtfinden? Trümmer beeinträchtigen die Orientierung ungemein. Bis wohin ging der Schutt des eigenen Hauses? Wo fing der vom Nachbarn an? Wie sollte man unter die Trümmer kommen?
Durch den ehemaligen Lieferanteneingang gelangte sie zur Kellertreppe. Unerträgliche Hitze drang herauf, sie konnten kaum atmen. Der Keller hatte — umständehalber — die erste Deckenheizung. Unter dem Schutt glühte es noch immer. Trotzdem stieg sie hinunter. Gedanken an Dantes Inferno drängten sich auf, und da, gewissermaßen im Entrée zum Fegefeuer, lag die Rokokokonsole. Ringsum war alles voller Dreck, aber großzügig angelegt mit Waschküche, Abstell- und Vorratsräumen. Wahrnehmung und Einstellung verdichteten sich zur Idee: Hier ist Platz, hier hört uns niemand, sieht uns niemand und geheizt ist auch — hier gebe ich ein Fest!
Wie besessen machte sie sich in den folgenden Tagen zusammen mit Amana von Bayern und Maxi Billig, dem Besitzer des Hotels Continental , an die Säuberung der Hölle. Sie setzte einen Termin fest und verständigte den Freundeskreis, Künstler, Studenten, Urlauber, durch Weitersagen. Jeder wurde gebeten, etwas mitzubringen. Kerzen vor allem und Taschenlampen, Eßbares, Trinkbares, jeder ein Glas und Kissen, denn es gab keine Stühle.
Unter den Verständigten war auch Boris. Der gründliche Schwabe schaute sich die Festräume erst einmal an. Mit fachmännischem Blick fand er das Erdkabel und die Haussicherung und entschied nach kurzer Prüfung: »Wir brauchen keine Kerzen, wir brauchen Nachttischlampen. Weitersagen!«
An einem Nachmittag im Oktober verschwand der Discjockey mit einer unauffälligen Kiste in dem Trümmerhaufen. Sie enthielt den Plattenspieler samt Tonabnehmer 1001 von Telefunken — mit Saphir!
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