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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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nicht abbilden kann, Gratia, sind die Erfahrungen, die dein Gesicht formen werden. Wie sich Schmerz und Trauer darin niederschlagen oder Sehnsucht, Leidenschaft und Hingabe.«
    »Ich hoffe, diese Erfahrungen werden mir so gut stehen wie dir, Annik!«, sagte Gratia leise, nachdem sie ihre ältere Freundin lange angesehen hatte.
    »Du bist eine liebe junge Frau, Gratia, und ich wünsche dir, dass dir die Weisheit deines Herzens ewig erhalten bleibt.«
    Annik verbesserte noch etwas an der Frisur und hob dann das Portrait vorsichtig von der Scheibe, um es auf das Bord zum Trocknen zu stellen.
    »Dachte ich es mir doch, dass du hier zu finden bist, Gratia!« Ulpia Rosina war in die Werkstatt gekommen und betrachtete ihre Stieftochter missbilligend. »Ursa sagt, du bist krank, und sorgt sich um dich.«
    »Es ist nur ein Schnupfen!«, schnüffelte Gratia und wischte sich mit einem weichen Tuch die Nase.
    »Domina, es ist keine gefährliche Krankheit, und Gratia hat sich hier nicht überanstrengt.«
    »Nein, Rosina. Ich habe nur Modell gesessen. Siehst du den Kopf dort?«
    Rosina war sofort interessiert und betrachtete das Bildnis.
    »Das ist erstaunlich gut geworden, Annik. Ich habe auch schon einmal versucht, Portraits in Glas zu schneiden, aber mir liegen offensichtlich florale Muster mehr. Eine solche Ähnlichkeit gelänge mir nicht.«
    »Mach auch so ein Portrait von Rosina, Annik. Komm schon!«, forderte Gratia, aber Annik schüttelte lachend den Kopf und wehrte ihren Eifer ab, ihr einen passenden Krug zu suchen. Doch Rosina unterstützte sie.
    »Ja, Annik. Ich würde dir gerne zusehen.«

    »Na gut. Aber erspart mir die Peitsche, wenn mir das Bild misslingt!«
    »Sie wird dich hohläugig und unfrisiert darstellen, vielleicht sogar mit einer dicken Backe!«, kicherte Gratia.
    Rosinas Lieblichkeit war leicht zu formen, und sie und Gratia waren zufrieden mit ihren Plastiken. Annik versprach, sie bei dem nächsten Brand in den Ofen zu stellen. Doch als das Mädchen und die Herrin des Hauses gegangen waren, machte sich Annik an ein drittes Bildnis. Sie formte es aus dem Gedächtnis, und als der vollkommene Männerkopf fertig war, versank sie für eine Weile in seinem edlen Ausdruck. Dann aber nahm die Schöpferin mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns ein Messer in die Hand und zerstörte ihr Werk, indem sie über die linke Wange einen Schnitt durch den weichen Ton zog und die Narbe nachformte, die sich dort gebildet hatte.
     
    Fünf Tage später waren genügend Tonwaren getrocknet, so dass ein Ofen gefüllt werden konnte. Ilan und Erwan hatten Holz gehackt und das Feuer einen ganzen Tag unterhalten. Aber gegen Abend waren die beiden verschwunden, und Annik musste leise fluchend ihre Arbeit mit erledigen. Rußig und verschwitzt kam sie erst spät in der Nacht dazu, in ihr Bett zu kriechen, und so überhörte sie am Morgen auch das Krähen des Hahns. Erst als die blasse Herbstsonne schon hoch am Himmel stand, erwachte sie und sprang vom Lager auf. Sie rief nach Ilan, der ihr einen Eimer Wasser bringen sollte, bekam aber keine Antwort. Mürrisch und ärgerlich über ihre Helfer, die sie im Verdacht hatte, den Abend bei einer fröhlichen Zecherei verbracht zu haben, warf sie sich ihren Wollumhang über und stapfte selbst mit dem
leeren Eimer zum Brunnen. Das kalte Wasser belebte sie und reinigte sie zwar von Schmutz und Asche, aber nicht von ihrem Zorn. Sie ging in den Holzschuppen hinüber, um Erwan mit einem derben Weckruf Beine zu machen. Doch als sie hinter den Bretterverschlag spähte, musste sie vor Entsetzen die Luft anhalten. Erwan lag da und auch Ilan. Doch die alten Decken, die ihm als Lager dienten, waren zerrissen und starrten vor Blut.
    »Erwan! Ilan!«, rief sie und kniete bei dem alten und dem jungen Mann nieder. »Was ist euch passiert?«
    Ilan rührte sich als Erster. Mühsam öffnete er ein verquollenes Auge, das sich rundherum blau verfärbt hatte.
    »Oh, du bist es, Annik!«, krächzte er über aufgeplatzte Lippen und entblößte dabei eine blutige Lücke, wo einst ein Schneidezahn gesessen hatte.
    »Seid ihr in eine Schlägerei geraten?«
    »So könnte man sagen!«
    »Bei Taranis - mit wem?«
    »Mit ein paar gut bewaffneten Römern!«
    »Verdammte Scheiße!«, fauchte Annik. »Ihr hirnlosen Idioten. Wo wart ihr heute Nacht?«
    Ilan zuckte unter dem schneidenden Tonfall zurück und murmelte kleinlaut: »In den Wäldern.«
    »Das hätte ich mir denken können!«, knurrte Annik, doch dann überwog ihre Sorge

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