Der Siegelring - Roman
Blick an gröberen Zeugnissen jenes alltäglichen Lebens hängen. Die Dachziegel, mit denen die Gebäude gedeckt waren, hatte man offensichtlich auf dem Anwesen selbst gefertigt. Feuchter Ton, zu Platten geformt, wurde zum Trocknen vor dem Brand in die Sonne gelegt. Unvorsichtigerweise auf den
Boden, denn auf dem einen Ziegel war der Abdruck eines nackten Kinderfußes zu sehen. Über einen anderen war ein Erwachsener mit einer Sandale gestolpert. Was mich aber am meisten zum Lächeln brachte, waren die Abdrücke von großen Hundepfoten und daneben die Spuren von zierlichen Katzenpfötchen. Hier mochte die Hauskatze schon vor zweitausend Jahren den Hofhund herausgefordert haben, und die wilde Verfolgungsjagd führte hemmungslos auch über die frischen Ziegel.
Ich stand davor, tief versunken, und die Szene spielte sich in leuchtenden Farben vor mir ab. Der kläffende Hund hetzte hinter Feli, der roten Katze, her. Die erboste Töpferin kam aus ihrer Werkstatt, in einer tonverschmierten Lederschürze über der hochgerafften Tunika. Sie beschimpfte den Hund, jagte ihn fort und musste dann doch lachen, als die Katze empört die matschigen Pfoten zu putzen begann.
»Hallo, Anita! Was machst du denn hier?«
Ich zuckte zusammen.
»Oh, habe ich dich erschreckt? Das tut mir Leid!«
Ich kehrte in die Welt des 21. Jahrhunderts zurück und erkannte die kleine Schwester meiner Schwester.
»Cilly! Was für eine Überraschung!«
»Keine Überraschung, Bildung!«
»Ah, das ist deine Schulklasse?«
»Geschichts- und Kunst-Expedition. War nicht schlecht. Die haben schon ein super Leben geführt, die Jungs hier, was? Geheizter Mosaikboden, Sauna, flie ßend Wasser, gekühlte Keller, schicke Möbel und so!«
»Genau das habe ich mir vorhin auch gedacht.«
»Und wovon hast du gerade geträumt? Ich meine, du warst so in Gedanken versunken, als ob du etwas Spannendes gesehen hättest.«
»Habe ich. Siehst du diese Ziegel hier?«
»Hab ich vorhin schon. Die find ich nicht besonders. Die Schüsseln da vorne sind viel kunstvoller gemacht.«
»Es geht nicht um Kunst, schau mal genau hin!«
Cilly betrachtete die Ziegel und begann dann zu lachen.
»Klar, Hund jagt Katze. Wie bellen Hunde auf Latein?«
»Keine Ahnung. Ich weiß genauso wenig, wie Katzen auf Latein schnurren!«
»Ich denke, da hat sich bis heute nichts dran geändert. Tiere verständigen sich international. Aber sag mal, wieso treibst du dich hier rum? Ich dachte, du hilfst Rose im Atelier?«
»Sie hat mir heute freigegeben. Ich wollte... ach, das ist eine lange Geschichte.«
»Weißt du was? Ich sage Frau Klein Bescheid, dass ich mit dir nach Hause fahre, und dann kannst du sie mir erzählen!«
»Ich habe nichts dagegen, dich nach Hause zu fahren, aber verrate mir einen einzigen Grund, warum ich meine privaten Angelegenheiten vor dir ausbreiten soll?«
»Weil sie mich interessieren. Weil ich neugierig bin. Weil du aussiehst, als hättest du etwas wahnsinnig Tolles erlebt!«
Entwaffnet schüttelte ich lächelnd den Kopf.
»Ich komme mit zu deiner Lehrerin. Und dann fahren wir zu Rose. Ich möchte mit ihr über etwas sprechen.«
»Darf ich dabei sein?«
»Wir fragen sie.«
Die Lehrerin gab Cilly nach einigem Zögern die Erlaubnis, mit mir zu fahren. Während der Fahrt selbst ließ ich Cilly reden. Sie tat es ausgiebig, und anschließend war ich über das Schulleben im Allgemeinen, die Qualitäten des gesamten Lehrkörpers im Besonderen, über die Intrigen zwischen den besten Freundinnen und über
die ersten, mit mildem Spott beobachteten Annäherungen der aufblühenden Männlichkeit ihrer Klassenkameraden vollständig informiert.
Rose war überrascht, als sie mich mit Cilly im Atelier auftauchen sah, wurde aber von ihrer kleinen Schwester sofort mit der Forderung überfallen, mit den Arbeiten aufzuhören und sich stattdessen mit meiner Geschichte zu befassen. Sie ergab sich schulterzuckend in ihr Schicksal und erklärte sich bereit, mit uns in ihre Wohnung zu fahren.
»Du bist auf irgendetwas so Fantastisches gestoßen, dass Cilly völlig aus dem Häuschen ist?«
»Eigentlich bin ich ebenfalls aus dem Häuschen, Rose. Schau, das habe ich gestern Abend erhalten!«
Ich holte den Brief aus der Tasche, streifte den Ring vom Finger und reichte beides meiner Schwester. Cilly hing ihr über der Schulter, als sie las. Ich beobachtete die beiden und sah, wie sich die Härchen auf Roses Unterarmen aufstellten.
»Darum also die Römervilla!«
»Ja,
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