Der Siegelring - Roman
Verwicklungen nach, in die sie geraten war. Ihr Kontakt zu dem Barden mochte wirklich zu Misstrauen Anlass geben. Sie würde ihm das nächste Mal sagen, dass er sie nicht mehr auf dem Gut aufsuchen durfte. Wenn sie sich im Dorf oder auf dem Markt trafen, würde er leichter auf Distanz zu halten sein. Das war ihr auch ganz recht. Sie war nicht besonders erbaut darüber, dass er ihr den Anschlag auf das Leben der Legionäre verschwiegen hatte. Sie glaubte inzwischen nicht mehr, dass er nichts davon gewusst hatte. Er mochte nicht der Kopf der Verschwörer sein, aber er war zumindest insoweit daran beteiligt, dass er Nachrichten weitergab. Und was Valerius Corvus anbelangte, so würde sie zumindest versuchen, ihn nicht wieder zu reizen. Obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob es ihr wirklich gelingen würde. Ein Lächeln stahl sich dabei in ihre Augenwinkel, und die Vase erhielt einen besonders eleganten Kragen.
Er kam am nächsten Tag in der Abenddämmerung, als Annik ihr Essen zubereitete. Auf ihrem Herd schmorte
in einem tönernen Topf das Schweinefleisch, das sie von Ursa erhalten hatte, zusammen mit dünnen Zwiebelringen. Sie hatte die Champignons, die sie auf der Weide gefunden hatte, in Stücke geschnitten und zupfte gerade Blättchen von Weinraute und Majoran, die hinter ihrer Werkstatt in dichten Büscheln wuchsen. Frisch gebackene Brotfladen lagen auf dem Tisch, Töpfe mit Salz, Essig und Honig standen zum Würzen bereit.
»Dein barbarisches Abendmahl, Töpferin Annik?«, begrüßte der Hausherr sie.
»Wollt Ihr es probieren, Dominus? Es wird für zwei reichen.«
»Gesteht es meiner Neugierde zu - ja, ich will es probieren.«
Zufrieden, ihn in so gelassener Laune anzutreffen, stellte Annik Becher und Weinkrug auf den Tisch.
»Nehmt Platz, Dominus. Es ist gleich fertig. Nur der Wein …«
»Warte, Annik.«
Valerius Corvus rief nach einem der Jungen und schickte ihn um einen Krug des roten Weines, den er bevorzugte. Dann kam er in das Haus zurück und setzte sich auf die Bank am Tisch.
»Erzählst du mir von deiner Bekanntschaft mit dem Barden?«
»Natürlich.«
Annik berichtete, wie sie den spöttischen jungen Mann vor einem Jahr auf dem Markt kennen gelernt hatte, und versuchte ihm dabei zu erklären, welche Rolle der Barde für ihr Volk spielte.
»Sie sind ungemein wichtige Leute für die Gemeinschaft, sie sind Berater der Fürsten und Führer, Dominus. Sie kennen die Geschichte und können die Gegenwart, manchmal sogar die Zukunft daraus deuten. Denn
nichts ist neu, alles wiederholt sich, und die Fehler der Vergangenheit sollte man nicht wiederholen.«
»Eine weise Einstellung!«
»Sie verbringen Jahre damit, die alten Lieder und Sagen zu lernen. Cullen hat sie von seinem Großvater beigebracht bekommen. Sie werden traditionsgemäß mündlich weitergegeben, denn nur damit bleiben sie lebendig und können den neuen Gegebenheiten angepasst werden.«
»Aber damit schleichen sich auch Fehler ein, sollte man meinen. Das Gedächtnis der Menschen ist unberechenbar.«
»Fehler - nein, ich glaube nicht. Andere Ansichten oder Sichtweisen, das ja. Aber genau das meine ich damit, dass sich die Geschichten anpassen. Was geschrieben ist, bleibt ewig gleich. Wenn jemand es viele Jahre später oder auch nur an anderer Stelle liest, dann versteht er wahrscheinlich den Zusammenhang der Handlungen nicht mehr, weil er unter anderen Bedingungen lebt. Die alten Lieder meines Volkes zum Beispiel handeln vom Meer, die der Hiesigen von den Wäldern. Wer das Meer nicht kennt, sondern nur die Wälder, der erkennt vielleicht den tieferen Sinn darin nicht. Doch wenn derjenige, der diesen Sinn verstanden hat, die darin verwendeten Bilder, die Sprache und die Vergleiche den jeweiligen Umständen anpasst, dann kann er auch die erreichen, die aus einer anderen Gegend kommen oder in einer anderen Zeit leben. Die grundlegende Erkenntnis, die damit verbunden ist, bleibt jedoch unverändert. Sie ist es, die die Barden bewahren und die es ihnen möglich macht, anderen zu erklären, welche Folgen ihr Handeln hat.«
Annik gab die Kräuter in den Topf und würzte den Inhalt mit einem Löffel Honig.
»Und alles das kann dein Freund Cullen?«
»Nun ja, er ist noch jung. Er hat ein ungeheures Wissen, er beherrscht die Technik des Liedermachens und hat eine schöne Stimme. Doch wollte ich einen Rat, so wäre mir ein älterer seiner Art lieber.«
»Du fragst ihn nicht um Rat?«
»Nein. Das, was ich zu tun habe, bedarf seines
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