Der Siegelring - Roman
plötzlich: »Löse deine Haare für mich, Barbarin.«
Wortlos griff Annik in den Nacken und zog die beiden Haarnadeln heraus. Der lange Zopf fiel ihr über die Schulter, und mit geübten Fingern entflocht sie ihn. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre langen Haare freischütteln konnte. Er sah ihr zu, bewegungslos, stumm. Das flackernde Licht der Öllampe ließ goldene Reflexe in dem Blond aufleuchten, und sie wusste um diese Wirkung.
Ein wenig neigte sie den Kopf zur Seite und sah ihn mit einem Blick halb unter den Wimpern verborgen an.
Er schwieg noch immer, aber stand, gestützt auf seinen Stock, auf. Sie erhob sich ebenfalls. Mit zwei Schritten war er an ihrer Seite. Beinahe einen Kopf überragte er sie und schaute auf sie herab.
»Habt Ihr noch eine Bitte, Titus Valerius Corvus?«, fragte Annik sehr leise.
Er hob die Hand, als wollte er ihre Haare berühren, zog sie aber zurück, drehte sich um und verließ das Haus. Sie sah ihm nach, wie er sehr aufrecht und kaum hinkend zur Villa ging.
Den letzten Becher Wein trank Annik dann unverdünnt aus, und nur deshalb war ihr Schlaf in dieser Nacht tief und traumlos.
19. Kapitel
Amokfahrt
Cilly ließ die Hände von den Tasten gleiten und sah mich mit großen Augen an.
»Was für eine Bitte meint Annik?«
Ich musste lächeln. »Cilly, er begehrt sie.«
»Ja - und?«
»Und er weiß, dass er tiefe Narben auf seinem Körper trägt. Rosina fühlt sich von ihm abgestoßen.«
»Und darum traut er sich nicht, sie zu fragen, ob sie mit ihm ins Bett will. Ich verstehe. Sag mal«, sie sah mich höchst neugierig an. »Hast du schon mal einen Mann wie Valerius Corvus getroffen, Anita?«
»Nein, bisher noch nicht.«
»Und wenn du ihn treffen würdest?«
»Dann würde er mich wahrscheinlich tief beeindrucken. Julian hat mir da ein hohes Ideal mitgegeben.«
Rose nickte, und Cilly fragte: »Würdest du dich in ihn verlieben?«
»Ich glaube, in einen solchen Mann verliebt man sich nicht.«
Nein, dachte ich, sagte es aber nicht - einem solchen Mann verfällt man. Und eine unerklärliche Sehnsucht legte sich um mein Herz.
»Nee, nicht? Der wäre viel zu alt für dich. Meine Güte, der war ja schon...«, sie rechnete mit gekrauster Nase nach. »Der war ja schon sechsundvierzig!«
»Vielleicht solltest du bedenken, dass dein Schwarm Marc auch ungefähr sechzehn Jahre älter ist als du!«
»Das ist doch was ganz anderes!«, schnaufte sie empört. »Er ist noch jung!«
Rose und ich brachen in schallendes Gelächter aus.
Marc hatte seinen Job gut gemacht, wie wir in der Woche nach der Ausstellung in den Zeitungen sahen. Wie er es geschafft hatte, allen seine Bilder unterzujubeln, blieb mir unklar. Aber Rose und ihre schimmernden Glasobjekte waren der Glanzpunkt der Ausstellung. Und die Anfragen häuften sich, und wir hatten ungeheuer viel zu tun. Außerdem hatte ich mein Versprechen wahr gemacht und Marc angerufen, um mich zu bedanken. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass wir uns am ersten Dezemberwochenende treffen wollten. Es kam zwei Tage früher dazu.
Denn für meine Schwester war die Publicity ein Segen - für meine Mutter ein Fluch, wie sich herausstellte!
Es war ein eisig kalter Donnerstagabend, ich hatte mich schon abgeschminkt und wollte zu Bett gehen, als das Telefon klingelte. Ich meldete mich ein wenig mürrisch und wurde noch ungehaltener, als sich mein Gesprächspartner nur mit einem Stöhnen meldete. Solche Anrufe konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.
»Wer sind Sie!«, fauchte ich in den Hörer.
Ein Schniefen antwortete mir, dann ein unverständliches Genuschel. Mir schwante Schlimmes.
»Uschi, bist du das?«
»Du erkennst deine eigene Mutter nicht mehr«, kam es weinerlich, aber einigermaßen verständlich bei mir an.
»Nur an einem Schnupfen und Schnaufen natürlich nicht!«, versuchte ich munter zu antworten. »Was gibt es?«
»Ach, nichts!«
»Uschi, wegen nichts rufst du mich doch kurz vor Mitternacht nicht an. Was ist los?«
»Ich bin so einsam, Anita. Niemand kümmert sich um mich.«
»Ach, Uschi, das kann ich nicht glauben. Du hast so viele Freunde. Komm, geh zu Bett und schlaf dich aus. Ich besuche dich morgen Nachmittag, einverstanden?«
»Das versprechen alle. Aber niemand kommt zu mir. Du schon gar nicht. Du bist ja nur mit dieser Rose zusammen. Ununterbrochen. Die ganze Zeit. Und jetzt prostituiert sie sich auch noch in der Öffentlichkeit, diese Schlampe.«
Hoppla, dachte ich. Uschis Stimme hatte jegliches Nuscheln
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