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Der Siegelring - Roman

Titel: Der Siegelring - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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verloren und war ätzend scharf geworden. Zumindest hatte sie mit einer Sache Recht - ich hatte mich in den letzten Wochen wirklich nicht um sie gekümmert, meine Zeit war vollständig durch Julians Geschichte und Roses Arbeit in Anspruch genommen worden. Und wenn ich ehrlich war, hatte ich es auch als Ausrede für mich benutzt, mich nicht mir ihr zu treffen und mir ihre Tiraden anzuhören.
    »Gib es zu, Anita! Sie ist dir wichtiger als ich. Dieses Kind der Schande!«
    »Uschi, Uschi!«
    Wider Willen musste ich über diese dramatische Formulierung lachen.
    »Ja, lach du nur darüber. Du hast ja kein Gefühl dafür, was es bedeutet, hintergangen zu werden.«
    Wieder schniefte sie, und ich riss mich zusammen, um ihr geduldig zu antworten.
    »Niemand hintergeht dich. Wir haben eine Ausstellung organisiert, das hat viel Zeit gefordert. Jetzt ist das vorbei, und ich werde wieder häufiger bei dir vorbeischauen.«
    »Vorbeischauen. Ja, das wirst du. Kurz hereinkommen,
ein paar Worte wechseln und wieder verschwinden. Niemand kümmert sich wirklich um mich. Seit dein Vater von uns gegangen ist, übersehen mich alle!«
    »Ich werde es einrichten, dass ich bald ein ganzes Wochenende bei dir bin, Uschi. Wir gehen ins Theater oder irgendwo schön essen. Oder legen uns Musik auf und tanzen. Das könnte ich mal wieder gebrauchen. Einverstanden?«
    »Tanzen? Wie kannst du von Tanzen sprechen. Ich trauere!!«
    »Entschuldige. Ich dachte nur, weil du...«
    »Du denkst überhaupt nicht. Du bist völlig gefühllos!«
    Sie heulte jetzt richtig, und mir ging ihr triefendes Selbstmitleid mehr und mehr auf die Nerven.
    »Uschi, ich bin nicht gefühllos. Ich trauere um Julian genauso wie du und vermisse ihn schmerzlich. Aber das Leben geht nun mal weiter.«
    »Nein!«, schrie sie. »Nein, es geht nicht weiter.«
    »Himmel, Uschi, reiß dich zusammen!«
    Meine Geduld war mal wieder in die Brüche gegangen. Mit der entsetzlichen Folge, dass mir meine Mutter mitteilte, sie wolle nun ins Auto steigen und dorthin fahren, wo mein Vater verunglückt war.
    Panik stieg in mir auf.
    »Tu das nicht, Uschi. Es ist kalt und wird wahrscheinlich frieren. Bleib zu Hause. Bitte. Wenn du willst, komme ich sogar heute Nacht noch zu dir.«
    »Brauchst du nicht, Anita«, sagte sie mit plötzlicher Entschlossenheit. »Du brauchst überhaupt nicht mehr zu kommen. Ich gehe zu deinem Vater!«
    »Uschi!«
    Jetzt war ich es, die schrie. Aber sie hatte schon aufgelegt.
    Meine Gedanken rasten. Sie brachte es wahrhaftig fertig,
in dieser eisigen Winternacht über die Autobahn zu donnern, und das, wenn mich nicht alles täuschte, voll mit irgendwelchen Tabletten und wahrscheinlich auch einer gehörigen Portion Alkohol im Blut. Wenn das schon nicht ein geplanter Selbstmord war, dann war es zumindest ein selbstmörderisches Verhalten. Was sollte ich nur tun?
    Während ich nachdachte, zog ich mir bereits einen weiteren warmen Pullover über und suchte meine Winterstiefel. Ich musste zu ihr hinfahren und versuchen, sie davon abzuhalten. Auf leeren Straßen brauchte ich höchstens zwanzig Minuten. Hoffentlich wartete sie so lange.
    Ich sah in den Spiegel, in meinem blassen, ungeschminkten Gesicht trat die Narbe deutlich hervor.
    »Tu es nicht alleine, Anita!«, sagte ich mir und hoffte, dass Marc eventuell schon in der Gegend war. Ich tippte seine Nummer ein.
    »Hallo!«, meldete er sich nach dem ersten Klingeln, und ich atmete auf.
    »Ich bin’s, Anita. Bist du irgendwo in meiner Nähe?«
    »Kannst du hellsehen? Da vorne ist die Abfahrt. Soll ich zu dir kommen?«
    »Ja, bitte!«
    »Aber mit dem größten Vergnügen!«
    Er legte auf, ich griff zu meiner dicken Jacke und schnappte mir den Schlüsselbund. Als ich aus dem Haus trat, fielen die ersten Schneeflocken. Vereinzelt nur und klebrig feucht. Aber der Boden war kalt, und es würde glatt werden.
    Ich brauchte nicht lange zu warten. Scheinwerfer beleuchteten die Hecken, Marcs Porsche hielt am Straßenrand. Ich riss die Beifahrertür auf und setzte mich neben ihn.

    »Meine Mutter ist auf dem Weg zu der Stelle, wo mein Vater umgekommen ist. Autobahn nach Koblenz. Sie ist mit Tabletten vollgedröhnt.«
    »Wann?«
    »Vor fünf Minuten hat sie aufgelegt.«
    Er startete den Wagen und fuhr los. Dann reichte er mir sein Handy.
    »Okay. Ruf die Polizei an.«
    »Was soll ich denen sagen?«
    »Suizidgefährdete Frau auf der Autobahn. Richtung, Fahrzeug, Kennzeichen, wenn du es weißt.«
    Es war beruhigend, ihn bei mir zu haben.

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