Der Silberbaron
davon.
Emma verbarg sich im Schatten der Mauern, als sie ihn kommen sah. Sie war wie betäubt vor Schreck und Ekel. Was sie mit angesehen hatte, jede abstoßende Einzelheit, verstörte und verletzte sie weitaus mehr als der Klatsch über ihre Eltern.
Von weitem hatte sie beobachtet, wie sich ein silberblondes Haupt hinabbeugte, um eine Frau zu küssen, und hatte trotz ihrer Furcht wie hypnotisiert einen Schritt nach vorn getan. Dann hatte sie die Frau erkannt, hatte Stephen im Schatten entdeckt, der den beiden zusah.
“Willst du sie mit mir teilen, wann immer mich die Lust überkommt?”, hatte sie Richard in kaltem, lässigem Ton sagen hören. Das hatte genügt. Ihr war übel geworden, und sofort hatte sie sich abgewendet von der ekelhaften Szene. Bei einem schnellen Blick zurück hatte sie gesehen, dass Richard sich ebenfalls entfernte, worauf sie rasch auf eine Mauer zugeeilt war, um sich in ihrem Schatten zu verbergen. Sie wollte keinesfalls als Lauscherin dastehen.
Wild fluchend wandte sich Richard noch einmal zu der Kutsche um. Als er sich wieder umdrehte, blieb sein Blick in den Schatten hängen … er zögerte. Sah noch einmal hin. Drehte sich auf dem Absatz um, blieb stehen und starrte auf die Mauer.
Emma bewegte sich als Erste. Sie konnte die Spannung nicht länger ertragen. Mit hoch erhobenem Kopf schritt sie zum Eingang der Assembleesäle zurück.
Im selben Augenblick setzte sich auch Richard in Bewegung und schnitt ihr den Weg ab. Er stützte sich mit dem Arm an der Mauer ab, worauf sie sofort versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen, doch er drängte sie an die Backsteine. “Suchen Sie etwa nach mir?”
Emma schluckte zwei Mal, verzweifelt um Gelassenheit bemüht, doch die Sprache versagte ihr den Dienst. Sie schüttelte den Kopf und versuchte nochmals, an ihm vorbeizukommen.
“Wollen Sie mir zuhören, wenn ich es Ihnen erkläre?” In den Worten schwang ein eigenartig flehentlicher Ton mit.
“Ich musste an die frische Luft”, brach es aus ihr hervor, “und bin nach unten gegangen, weil ich … weil ich …” Eine Träne stahl sich ihre Wange hinunter. Mechanisch wischte sie sie weg.
Seine Hand bewegte sich auf ihr Gesicht zu, doch wie von Sinnen schlug sie sie beiseite. Sofort schnellte sie wieder nach vorn, indes nicht, um sie zu schlagen, wie sie einen Augenblick lang meinte: Seine Faust krachte mit solcher Wucht gegen die Backsteine über ihrem Kopf, dass sie förmlich spürte, wie sie erzitterten.
Er neigte den Kopf. “Was haben Sie gehört … gesehen?”
Die Frage klang ganz normal. “Genug”, erwiderte sie. “Genug widerwärtige, abstoßende …” Zitternd verstummte sie und starrte über seine Schulter hinweg in die sternglitzernde Nacht.
“Darf ich es Ihnen erklären?”
“Wozu? Was soll ich mir Ihre armseligen Lügen darüber anhören, warum Sie Ihre Geliebte mit Ihrem Bruder teilen?”
Darauf reagierte er nur mit einem freudlosen Lachen, bei dem sie den letzten Rest an Selbstbeherrschung verlor. Sie schlug nach seinem Gesicht … und er ließ es zu. Zwei Mal schlug sie ihn, und er nahm es einfach hin, ohne sich zu schützen, ohne sie abzuwehren. Als sie ihren weiß glühenden Zorn schließlich so weit bezähmt hatte, dass sie sich zitternd an die Wand lehnte, sah er sie an.
“Sie müssen mich anhören, Emma.”
“Jetzt hören Sie mir zu”, gab sie mühsam beherrscht zurück. “Glauben Sie nur nicht, ich bin auf der Suche nach Ihnen hier herausgekommen. Ich habe Ihnen nicht nachspioniert. Oben habe ich etwas … etwas über Leute gehört, die ich kenne, was mich sehr aufgeregt hat, und da wollte ich einen Augenblick nach draußen gehen. Ich wünschte, ich hätte keinen von Ihnen gesehen!” Sie verstummte und wischte sich noch eine Träne von den Wimpern.
Richard senkte den Kopf und starrte blicklos auf seine blutigen Knöchel. Dann stützte er den Kopf in die Hand und fluchte ausgiebig.
Als er Stephen näher kommen sah, packte er Emma abrupt am Handgelenk und zerrte so herrisch daran, dass jede Gegenwehr vergeblich war. “Sag den anderen, dass wir nach Silverdale zurückgekehrt sind”, fuhr er seinen Bruder an, ohne ihn anzusehen.
“Was fällt Ihnen ein, mich so grob anzufassen, Sie Unhold!”, spie Emma ihm entgegen.
“Machen Sie jetzt keine Szene, Emma, und provozieren Sie mich um Gottes willen nicht weiter.”
Auf sein Fingerschnippen hin fuhr gleich darauf die Kutsche vor.
Die Rückfahrt verlief in vollkommenem Schweigen. In Silverdale stieg Emma
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