Der Silberbaron
Fort mit Ihnen.”
Emma wusste nicht, ob sie Erheiterung oder Empörung darüber zeigen sollte, dass diese junge Frau, anscheinend Matthews Haushälterin, sie für eine Hausiererin hielt.
Nachdem die Frau sie immer noch wütend anstarrte, befreite Emma sich mit einem Ruck von der Brombeerranke, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und erklärte kühl: “Ich komme aus London und möchte Mr. Cavendish sprechen. Ist er hier?”
Angesichts des unerwartet kultivierten Akzents blieb der Frau der Mund offen stehen. Scharf musterte sie Emma von der praktischen braunen Schute bis hinunter zu den staubigen festen Schuhen.
“Mach die Tür zu, Maisie, verdammt noch mal. Es zieht ja dermaßen, dass es mir die ganzen Papiere durcheinander weht!”, bellte jemand im Inneren des Cottages.
“Matthew …”, flüsterte Emma, als sie nun die wohlmodulierte, wenn auch sehr zornige Stimme hörte. “Ich möchte Mr. Cavendish sprechen”, wiederholte sie bestimmt.
“Moment”, gab die Frau unhöflich zurück und schlug ihr die Tür vor der Nase zu, doch wenig später trat ein großer Mann heraus. Er fuhr sich über das stoppelige Kinn und die Augen, als wäre er erschöpft.
“Emma …?”, murmelte Matthew Cavendish ungläubig, während er sich eine Strähne braunen Haares aus der Stirn strich. Er lächelte über das ganze Gesicht, und nachdem er sich Manschetten und Weste zurechtgezupft hatte, eilte er auf sie zu.
“Emma! Wie wunderbar, dich wiederzusehen!” Er packte sie bei den Schultern und lächelte in ihr unsicher blickendes Gesicht hinab. “Warum hast du dich denn nicht angekündigt? Oh, entschuldige … komm doch bitte herein. Du musst mich ja für einen rechten Lümmel halten, dass ich dich hier draußen in all dem Unkraut einfach stehen lasse. Wie du sehen kannst”, fügte er mit einer Geste auf die wild wuchernden Pflanzen reuig hinzu, “gehört die Rosenzucht nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.” Er hakte sie unter und führte sie aus der milden Herbstsonne in das kühle, dunkle Cottage hinein.
“Maisie wird uns den Tee servieren”, wies er die Frau an, während er Emma aus ihrer Pelerine half.
Emma warf der kleinen Brünetten einen Blick zu und bemerkte, dass die Dienerin ihren Herrn seltsam aufsässig anstarrte. Dann machte Maisie auf dem Absatz kehrt und verschwand.
Es trat eine kurze Pause ein, während der sie einander nur höflich anlächelten, und dann sagten beide gleichzeitig: “Bitte entschuldige …”
“Bitte lass mich erklären …”
Sie lachten verlegen. Dann sagte Matthew: “Du zuerst” und schob sie zu einem gemütlichen Chintzsessel am Feuer. Als er sich zu ihr hinüberlehnte, ihre Hände ergriff und ihr zu verstehen gab, wie sehr er sich über ihren Besuch freue, drang ihr ein wohl bekanntes süßliches Aroma in die Nase. Sie hatte ihren Vater viel zu oft in trunkenem Zustand erlebt, um nun den Geruch nach starken alkoholischen Getränken zu verkennen. Ihr fiel auf, dass seine Augen leicht gerötet waren, und sein Gesicht, auf dem sich nun ein zögerliches Lächeln ausbreitete, war zweifellos verkatert.
“Ich muss mich dafür entschuldigen, Matthew, dass ich dich so ohne Vorankündigung überfalle. Aber ich hatte keine Zeit, zu schreiben oder deine Antwort abzuwarten.”
In der schwankenden, unangenehm stickigen Kutsche hatte sie die ganze Zeit nur ein Gedanke beherrscht: Wie sie sich danach sehnte, Matthew ihr Herz auszuschütten und ihn zu bitten, den Heiratsantrag zu erneuern, den er ihr vor fünf Jahren gemacht hatte. Dieser verzweifelte Wunsch hatte sich nun merkwürdigerweise verflüchtigt. Was blieb, war die Erleichterung, sich aus Jarrett Dashwoods Nähe entfernt zu haben.
“Du solltest dich erst mal ein bisschen ausruhen und dann mit uns zu Abend essen”, sagte Matthew und drückte ihre Hand.
Emma dankte ihm mit einem Lächeln; sie war hungrig, war aber auch erleichtert, dass Matthew sich taktvoll zurückhielt. Sie brauchte einen Augenblick Ruhe, um sich zu fassen, bevor sie enthüllen konnte, welche Katastrophe sie dazu veranlasst hatte, sämtliche Regeln der Etikette zu brechen und sich unbegleitet ins Haus eines unverheirateten Herrn zu begeben. Nachdem sie sich über diese Ungehörigkeit klar geworden war, stieß sie gleich auf die nächste: Über Nacht bei Matthew zu bleiben war völlig ausgeschlossen. Sie musste sich eine Unterkunft suchen.
Während sie sich in der unaufgeräumten Wohnstube umsah, warf sie Matthew einige unauffällige Blicke
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