Der Simulator
Metern kam ich an eine Stelle, die mir bekannt vorkam. Zwischen den Palmen, um eine Kuhle herum, stand ein Zaun. Ein Gehege eigentlich, das von grob bearbeiteten braunen Holzplanken gebildet wurde.
Es war leer. Und das enttäuschte mich ein wenig. In jenem anderen Gehege in jenem anderen Leben hatten wir drei Riesenschildkröten gefunden, schuppige, wildschweingroße Tiere, die in der Mittagshitze schliefen.
Schade, dachte ich, und strich mit der Hand über das raue Holz. Seltsame Parallelen, seltsame Übereinstimmungen. Dann stutzte ich. Meine Finger hatten eine kreisrunde Furche ausgemacht, eine Rille, die jemand mit einem Messer in das Holz eingeritzt haben mochte. Ich trat zurück. Tatsächlich war es ein Herz. Darin zwei Buchstaben und ein Pluszeichen: B+M. Barbara und Marc. Wie hatte ich das vergessen können?
Verwirrt ging ich zum Strand zurück. Der Himmel brannte. Orange in der Mitte, rot an den Seiten und violett, dort, wo die Sonne am entferntesten war. Ein Bilderbuchsonnenuntergang schloss meinen Ausflug ab.
Etwas benommen kam ich aus der Kabine und ging an der Kasse vorbei Richtung Ausgang.
»War’s recht?« fragte das Männchen vielleicht in der Hoffnung auf ein Trinkgeld.
»Ja«, antwortete ich abwesend. »Es war großartig.«
»Dann beehren Sie uns bald wieder. Wir haben Tag und Nacht geöffnet, vierundzwanzig Stunden am Tag sozusagen.« Er kicherte schrill.
»Ja, das werde ich tun.« Ich war schon fast an der Tür, als ich mich umdrehte und zurückkam. »Dieses ... Programm. Wie alt ist es denn?« Als ich sah, dass das Männchen eine versteckte Kritik in meinen Worten witterte, beeilte ich mich hinzuzufügen: »Nein, ich meine, wie lange haben Sie es schon?«
Er zog seine Stirn in Falten. »Es ist neu. Relativ neu. Ich würde sagen, ein halbes Jahr. Nicht viel mehr.«
»Ein halbes Jahr?«
»Haben Sie die Details gesehen? Keine 3D-Shader, keine automatischen Iterationen. Der Hersteller garantiert eintausend selbständige Objekte pro Bild. Eintausend! Als ob irgendein Mensch so viel auf einmal sehen könnte! Aber es ist gut, nicht wahr? Wirklich gut. Wissen Sie, ich habe da so ein Mädchen, ein künstliches natürlich, na ja, in meinem Alter, mit dem gehe ich manchmal dahin. Nachts, wenn hier wenig los ist...«
»Danke«, ich ließ ihn stehen. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Draußen war es kalt, ein unangenehmer Wind pfiff zwischen den Hochhäusern hindurch.
Ich stand kaum auf der Straße, als es passierte. Seit wie vielen Tagen wartete ich darauf? Und doch, jetzt, da es geschah, war ich völlig überrascht. Die Empathieschaltung traf mich mit voller Wucht. Nur die Häuserwand, an der ich mich stützte, verhinderte, dass ich der Länge nach hinfiel. Ein heftiger Schwindel übermannte mich.
Jemand drang in mein Gehirn ein. Keinen Augenblick zweifelte ich daran, dass er aus meinen Gedanken alles las, was darin zu lesen war. Das war das Ende, soviel stand fest.
Genauso plötzlich wie er begonnen hatte, ging mein Anfall vorüber. Ich sah mich um, doch niemand schien mein Taumeln bemerkt zu haben. Auf unsicheren Beinen legte ich die letzten Meter zum Shuttle-Terminal zurück.
Dort erwartete mich die nächste Überraschung. Alle Monitore zeigten das gleiche Bild: Zahllose Mannschaftswagen und gepanzerte Räumfahrzeuge waren auf dem Weg zum Sinex-Hochhaus. Google-News berichtete: ‚ *** Heidelberg: Großaufgebot der Bundespolizei beendet die Belagerung der Sinex-Zentrale. Interviewerdemo gewaltsam aufgelöst.’
Kowalski hatte gewonnen. Wir waren verloren.
Doch das war noch nicht alles, denn plötzlich stand Hauptkommissar Bartels vor mir. Er war in Begleitung zweier Uniformierter. »Marc Lapierre«, er hatte ein Stück ePaper in der Hand, das er hochhob. »Ich verhafte Sie wegen Mordes an Norbert Blinzle.«
Der große Steuermann hatte sich für die langsame Vernichtung entschieden. Ich sollte für immer in einem Gefängnis oder einer Psychiatrie verschwinden.
Doch ich schaltete schnell. Hier am Bahnhof, inmitten hunderter Menschen würden sie kaum auf mich schießen. Ich drehte mich um und rannte los, ich rannte, so schnell ich konnte.
14 . Kapitel
Der einzige Zufluchtsort, der mir blieb, war meine Hütte in den Schweizer Bergen. Dort war ich vor den deutschen Strafverfolgungsbehörden sicher. Eigentlich war ich dort vor jeglicher Strafverfolgung sicher, zumindest jeder nichtschweizerischen. Nur der große Steuermann und die höhere Wirklichkeit konnten mir dort etwas anhaben.
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