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Der Skandal (German Edition)

Der Skandal (German Edition)

Titel: Der Skandal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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Haar. Sie ist sorgfältig geschminkt, ihr Parfüm duftet blumig, aber nicht aufdringlich. Seine Mutter ist ihr ganzes Leben lang immer perfekt gewesen. Er beugt sich zu ihr hinunter und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie war schon immer schlank, trotzdem fällt ihm auf, dass sie abgenommen hat, sie wirkt zerbrechlicher als noch vergangene Woche. »Geht es dir gut, Mom?«
    »Warum sollte es mir nicht gut gehen?« Seine Mutter schüttelt energisch den Kopf. »Dein Bruder hat mich das auch schon gefragt. Sehe ich so miserabel aus?«
    »Nein! Du siehst fantastisch aus! Stimmt’s Frank?«
    »Du siehst nicht älter aus als … siebzig!«
    »Na, übertreiben müsst ihr auch nicht!«
    »Das ist nicht übertrieben«, sagt Frank.
    Ochs zieht den Mantel aus und hängt ihn an die Garderobe. Heute hat Emily, die Haushälterin, frei. Darauf hat seine Mutter bestanden.
    Der polierte dunkle Holzboden und die schweren antiken Möbel verströmen den unverwechselbaren Duft von Pflegeöl, der sich in Ochs’ Kindheitserinnerung eingebrannt hat. Überhaupt hat seine Mutter in all den Jahrzehnten kaum etwas verändert an der Einrichtung. Sie hat ein paar Teppiche ausgetauscht, ja, und die Vasen sind andere und auch die Gemälde und natürlich die Fotos auf dem Couchtisch.
    Die alten von Susan und ihm und den Kindern hat sie immer noch dort stehen. Und ein neues von Jason, ihrem Ältesten, und dessen Frau. Sie erwarten im Sommer ihr erstes Baby.
    Sein Blick kehrt zurück zu Susan. Manchmal kann er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Nur noch an dieses weiße Krankenhausbett, an den Anruf der Polizei im Büro … Er verdrängt die aufkommenden Bilder von dem Auto, das auf dem Dach liegt, direkt zwischen den spiegelglatten Fahrbahnen der Interstate. Sie haben ihm Fotos gezeigt. Er hat es Gott nie verziehen, dass er den Fahrer des anderen Wagens hat überleben lassen.
    Seine Mutter hat ein neues Foto dazugestellt. Er und Heather in Jagdkleidung mit Schrotflinte. Es stammt vom letzten Urlaub im vergangenen Jahr. Vier Tage haben sie in einer Blockhütte bei Bayfield verbracht, oben am Lake Superior. Er konnte die Einladung von Charles Frenette nicht ausschlagen. Und Heather wollte unbedingt mitkommen. Er fragt sich immer noch, was Heather sich dort oben mit ihm erhofft hat.
    »Wir sind alle stolz auf dich«, sagt seine Mutter und hält den Milwaukee Sentinel in der Hand. »Gouverneur Carl H. Ochs bietet den Chinesen die Stirn«, liest sie vor. »Sie schreiben da über dein Engagement im Bergbau. Warum sollen wir unsere eigenen Ressourcen nicht nutzen? Und wie kann es möglich sein, dass unsere Politiker die Stadtautobahn in Chicago verkaufen? Das kann ich nicht verstehen. Vielleicht bin ich ja zu alt dafür, aber warum verzichten sie auf die Millionen Dollar, die die Mautgebühr einbringt? Warum überlassen wir alles den Chinesen?«
    Frank blickt zu ihm herüber und sagt dann: »Das amerikanische Volk wird es irgendwann einsehen.«
    »Dann ist es längst zu spät!« Ihre Mutter winkt ab. »Carl, du musst diese Wahlen gewinnen! Wir müssen endlich einen neuen Weg einschlagen! Ach, ich kann dir gar nicht sagen, wie verzweifelt ich manchmal bin, weil ich mit ansehen muss, wie unser großartiges Land immer tiefer sinkt.«
    »Ich weiß, Mom«, sagt Ochs und legt ihr den Arm um die Schulter. »Vertrau uns. Wir bringen Amerika wieder auf den richtigen Weg! Nicht wahr, Frank?«
    »Ja, Carl hat recht, Mom.«
    »Du solltest für die Präsidentschaft kandidieren, Carl«, sagt seine Mutter.
    Ochs wechselt einen raschen Blick mit seinem Bruder. Das sollte eigentlich noch niemand wissen – außer Frank.
    »Ja, Mom, mal sehen. Nach den Gouverneurswahlen.«
    Seine Mutter nickt. »Frank, hol bitte den Braten aus dem Ofen. Und Carl, es fehlen noch Servietten.«
    Ochs gehorcht, wie er es schon sein ganzes Leben lang getan hat. Gerade neulich, in einer dieser dämlichen Diskussionen mit jungen Leuten, hat jemand ihn gefragt, ob er früher auch gegen seine Eltern rebelliert hätte … Er hat ausweichend geantwortet. Aber die Frage hat ihn die ganze Rückfahrt lang nach Madison beschäftigt – und auch danach noch. Er hat vielleicht gegen seinen Vater, den autoritären Richter, rebelliert, ihm provozierende Antworten gegeben, ihn insgeheim verachtet oder manchmal auch gehasst, aber seine Mutter ist für ihn immer unantastbar gewesen. Sie hat schon immer all das verkörpert, was er bewundert: Intelligenz, Stärke, Entscheidungsfähigkeit,

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