Der Skandal (German Edition)
sie ihm gesagt, und dass er einen neuen Schlafanzug anziehen und rechtzeitig ins Bett gehen soll. Du hast morgen Schule, mein Schatz.
Sie ist sich ziemlich sicher, dass er viel länger wach geblieben ist, dass er es sich mit ihrem Bruder auf der Couch bequem gemacht hat – und fernsieht. Er liebt seinen Onkel Tim. Kein Wunder, der ist ja auch viel cooler als seine nervende Mom.
»Für mich ist jetzt Schluss, Jungs.« Christina stellt das leere Glas auf die polierte Holztheke und lässt sich vom Barhocker gleiten.
»Wir haben doch gerade erst angefangen, Chris!«, sagt Rob über die ganze Theke hinweg und will ihr einen neuen Drink ordern, Rob, der gern den Gentleman spielt und zugleich Frauen nicht richtig ernst nimmt. Er beugt sich gern zu ihnen hinunter und redet sie mit Babe an.
»Ich muss mal richtig ausschlafen, Leute«, sagt sie.
»Ich fahr dich heim.« Aaron steht neben ihr und hält ihr die Daunenjacke hin, sodass sie nur noch hineinschlüpfen muss. Er sieht so viel jünger aus als die anderen hier, mit seinen vollen rotbraunen Haaren und seinem jungenhaften Lächeln. Und er sieht definitiv nicht aus wie ein Polizist. Was hat er doch noch studiert? Christina versucht sich zu erinnern. Sie ist immer viel zu sehr mit ihren Fällen beschäftigt, um sich für andere zu interessieren. Bei ihren Partnern ist ihr nur wichtig, dass sie sich auf sie verlassen kann. Kein Wunder, nachdem das mit Dave passiert ist.
»Ich kann mir ein Taxi rufen.« Sie zieht den Reißverschluss zu. Seit zwei Monaten schon ist es verdammt kalt draußen. Der See ist zugefroren, das kommt nicht jedes Jahr vor.
»Nein, ist schon okay, ich fahr sowieso in deine Richtung«, sagt Aaron. Er ist so ganz anders als diese Kerle von der Mordkommission, denkt sie, manchmal bringen seine sanfte Art und sein Verständnis sie zur Weißglut. Jetzt ist sie ihm dankbar dafür. Auch dafür, dass er sie ganz dezent am Arm hält, denn sie fühlt sich ein bisschen wacklig auf den Beinen. Vielleicht liegt’s am Alkohol, dass sie sich plötzlich so durcheinander fühlt. Wahrscheinlich war alles zu viel für sie.
»Aaron, pass gut auf Chris auf!« Das kommt von Ed Ironman, der den nächsten Whisky kippt. Den Ironman im Saufen könnte er jedenfalls glatt gewinnen.
»Nicht dass uns Beschwerden zu Ohren kommen!« Gary zwinkert.
Aaron, das sieht sie, will etwas erwidern, lässt es dann aber. Nein, so ganz ist er noch nicht bei ihnen angekommen.
»Passt mal lieber auf, dass Muller keine Beschwerden über euch zu Ohren kommen, Jungs!«, sagt sie und hängt sich bei Aaron ein.
»Kannst uns ja die Polizei vorbeischicken!«, rufen sie hinter ihnen her und grölen vor Lachen.
Auf einen Schlag ist sie wieder nüchtern. All die Whiskys haben nicht gereicht, um die Erinnerung an die kleine Charlene zu ertränken.
Das kriegt sie einfach nicht aus dem Kopf.
Der Wind vom See schneidet ihr ins Gesicht, die Kälte nimmt ihr die Luft, spätestens jetzt fühlt sie sich stocknüchtern. Aaron hält ihr die Tür seines Wagens auf. Ihren hat sie beim Präsidium in der State West Street stehen lassen. Sie wusste, dass sie viel zu viel trinken würde.
Sein Auto ist kein Müllplatz wie die der anderen Kollegen, in diesem Augenblick ist sie dankbar dafür. »Sag mal, riecht’s hier nach Kaffee?«
»Gibt’s bei Walmart.« Er tippt den am Rückspiegel hängenden Duftstreifen in Form einer Kaffeetasse an.
»Kann man sich damit das Kaffeetrinken sparen?«
»Manchmal …«
Sie schnuppert daran, lehnt sich zurück, entspannt sich sogar ein bisschen. Verflucht, sie weiß schon gar nicht mehr, wie das ist: entspannen. Jeder einzelne Muskel, jede Sehne fühlt sich hart an, wie ein Drahtseil.
Sie schließt die Augen und spürt, wie der Wagen durch die nächtliche Stadt gleitet. Auf einmal fühlt sie sich unendlich müde und leer. Dabei sollte sie erleichtert sein. Ihre Gedanken treiben ziellos dahin, sie stellt sich vor, wie es wäre, einfach mit Jay abzuhauen. Irgendwo ein neues Leben anzufangen. Wo es keine Gewalt gibt, keine Grausamkeit.
Andersson, denkt sie, du bist total schräg drauf.
»Ist irgendwie komisch«, sagt Aaron unvermittelt, »dass man sich nicht viel besser fühlt, oder? Ich meine, wir haben ihn verhaftet, aber … da draußen laufen noch so viele Mörder rum …« Als sie die Augen öffnet und zu ihm hinübersieht, schüttelt er nachdenklich den Kopf. »Ich hab dich beobachtet, Chris.«
»Wann?«
»Als wir Raymond gestellt haben.«
»Travis Raymond, ich
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