Der Skorpion von Ipet-Isut
Einheimischen. Sie wusste nur, was Tameri oder Kare ihr ab und zu erzählt hatten, und sie kannte natürlich die Vorurteile, die ihr Vater immer wieder hatte fallen lassen. Sie hätte gern einen der Priester gefragt, am Liebsten jenen Kahotep, der sie am ersten Abend hier so freundlich aufgenommen hatte. Aber sie hatte ihn seit jener Rede vor zwei Tagen nicht wieder gesehen, und auch die übrigen Gottesdiener dieses Ortes machten einen eher abweisenden Eindruck seither. Ihnen zumindest musste nicht gefallen haben, was ihr Oberpriester gepredigt hatte, auch wenn sie aus den Zuhörern viele zustimmende Rufe gehört hatte.
Aber da waren auch noch die Gerüchte gewesen über die Aufruhr in der Stadt und im Tempel von Ipet-Isut… Ein Junge hatte wissen wollen, dass jemand den Hohepriester ermordet hätte. Andere erzählten, Amenemhat habe die Eindringlinge mit einem Bannfluch zu Boden geschleudert und einige von ihnen zu Staub zerfallen lassen.
Debora wandte sich von einem streitenden Paar in einem der Behelfsunterkünfte ab, blickte wieder nach oben auf den Fries – und zuckte zusammen. Unwillkürlich schloss sie die rechte Hand um ihr Zauberamulett. Das Bild dort zeigte eine Barkenprozession. Und in ihrer Mitte, die Hand zu einer Segensgeste erhoben, eine Gestalt in dem Ornat, wie es Amenemhat beim Fest in West-Waset getragen hatte. Und in diesem Moment hatte das Mädchen den Eindruck, ER blicke sie durch das Bild auf dem Stein an, mit Augen aus Feuer, die sich in ihre Seele brannten. Es kostete Debora Anstrengung, sich abzuwenden. Ihre Hand hielt immer noch ihr Amulett umklammert, aber es schien wirkungslos gegen die Art Zauber, mit der Amenemhat von Ipet-Isut sie gefangen hielt... Keine Magie, die sie hatte zu Stein werden lassen, wie Kare behauptete. Nein. Sie presste die Hand gegen ihr Herz und schloss die Augen. Nicht zu Stein, eher zu Feuer... Und sie hatte Angst vor diesen Flammen.
Ohne neuerlichen Aufruhr in der Stadt waren beinahe acht Tage verstrichen. Die Tore Ipet-Isuts waren immer noch geschlossen; die Weihezeremonien noch andauernd. An diesem frühen Morgen hatte Amenemhat wenigstens wieder die Zeit gefunden, seinen geliebten Aussichtsplatz auf dem Pylon aufzusuchen. Doch kaum dort angelangt, entdeckte er unten im Hof des Tempels jemanden, den er so bald ganz und gar nicht zurück erwartet hätte! Den Zweiten Gottesdiener, den er nach Men-Nefer entsandt hatte. Amenemhat legte den Weg über die Treppe und hinab in den Hof im Laufschritt zurück. Unten angelangt merkte er sofort, dass es mehr als die vorzeitige Rückkehr seines Boten war, was nicht stimmte.
Tempeldiener und Priester hatten ihre Tätigkeit unterbrochen und standen in kleinen Gruppen beieinander, mehr als einer mit deutlicher Bestürzung in Gebaren und Mimik. Andere knieten und warfen Staub auf ihre Köpfe. Amenemhat schritt nun doch schneller aus. Eine Ahnung allzu übler Natur ergriff ihn. War sein Plan aufgeflogen und die Männer des Pharao unterwegs? War der Zweite Gottesdiener nur noch als Überbringer seiner Todesbotschaft zurück befohlen worden? Mit Mühe gelang es ihm, seine Unruhe soweit zu dämpfen, dass sie ein unverdächtiges Maß nicht überschritt.
„Pharao Ramses ist zum Horizont gegangen!“ stieß der andere Amunpriester heiser hervor, nachdem Amenemhat ihn erreicht hatte.
„Vor zwei Tagen soll es geschehen sein, hörte ich! Im Heerlager bei Gizeh!“
Hervorragend, dachte Amenemhat, ich warte jahrelang, dass er ins Totenreich abtritt, und ausgerechnet jetzt tut er es!
„… Der Ruhmreiche Horus Prinz Iny ist auf dem Weg nach Waset! Ich habe sofort die Umkehr befohlen, um dir die Neuig...“
Amenemhat unterbrach seinen Gesandten mit einer heftigen Handbewegung. Der ‚Ruhmreiche Horus’! Ihm wurde schlecht bei der bloßen Vorstellung dieses Titels. Nichts Eiligeres hatte dieser Kindskopf zu tun, als das Schlachtfeld im Stich zu lassen!
„Du bist also sofort umgekehrt. Gut. Ich denke auch, dass die Geschäfte mit dem Gaufürsten von Men-Nefer noch einmal überdacht werden müssen… Das Schreiben?“ Er streckte fordernd die Hand aus.
„Hier, Erhabener!“ Der alte Priester zog die Schatulle hervor und reichte sie seinem Gegenüber. Mit einem raschen Blick prüfte jener, ob die Siegel noch intakt waren. Immerhin wäre ja möglich gewesen, dass seinen Gesandten allzu sehr die Neugier geplagt hatte... und in diesem Fall hätte er Sorge tragen müssen, dass ihn nichts in seinem Leben je mehr geplagt
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