Der Skorpion von Ipet-Isut
ihr verlorenes Gut ersetzen könnte. Aber wenigstens für ein paar Stunden hatten sie nicht an Kummer und Leid denken, sondern nur die Hoffnung auf die Zukunft feiern wollen. ‚Es würde alles besser werden’ hatte so Mancher versichert, den sie angetrunken und lachend auf der Straße traf. Bedeutete dass, dass ihr Vater und sie auch keine Furcht mehr vor dem Herrn von Ipet-Isut haben mussten? Würde der junge König den Hohepriester tatsächlich verbannen, so wie es eine alte Frau am Tor des Ptahtempels prophezeit hatte? Debora konnte nicht genau sagen, was sie bei dieser Vorstellung empfand. Erleichterung einerseits. Sie konnte wieder nach Hause, endlich! Aber da war noch ein anderes Gefühl, das sie sich scheute, näher zu ergründen. Sie wollte viel lieber vergessen, was in den letzten Tagen geschehen war! Während sich die Zuschauer zerstreuten, machte sich Debora auf den Heimweg.
Aber bereits aus der Ferne bemerkte das Mädchen die Unordnung, die auf den Feldern herrschte. Dann war in der Dämmerung der Hof selbst aufgetaucht. Oder besser das, was davon übrig war. Die Kronsteine waren von den Mauern gerissen und das Tor eingeschlagen. Die Gebäude standen ausgebrannt. Debora kam langsam näher. Dann sah sie die Leichen. Knechte des Hofes… Tameri… und dann ihren Vater, der mit eingeschlagenem Schädel im Eingang zum Haus lag, noch im Tod den Türrahmen umklammernd.
Debora war nicht fähig zu weinen, nicht einmal, zu schreien. Reglos stand sie da und starrte auf die Trümmer, während der Abendwind an ihren Haaren zerrte.
Wer hatte das ihrem Vater angetan? Und warum? War er nicht immer darauf bedacht gewesen, ehrlich und freundlich im Umgang mit allen Einheimischen zu sein? Ein Verdacht begann sich in dem Mädchen zu formen. War ER dafür verantwortlich, jener Dämonensohn mit den schwarzen Augen aus Ipet-Isut, der sie letzte Nacht wieder im Traum verfolgt hatte? Hatte er sich gerächt dafür, dass sie nicht zu ihm gekommen war, wie er befohlen hatte?
Sie sank gegen eine der rußgeschwärzten Mauern, in einem halbwachen, gespürlosen Zustand. Sie wartete, dass der Tod kam und sie holte, so wie die Geier, die sich auf den Leichnamen um sie niederließen, um Stücke heraus zu reißen und mit sich zu schleppen. Aber irgendwann zwischen den wahnhaften Träumen aus Erschöpfung, Hunger und Durst erinnerte sich Debora an Kahoteps Gesicht. Der Gedanke zog sie vom Abgrund des Todes zurück und sie klammerte sich daran. Mit dem festen Willen, den jungen Oberpriester zu finden, kroch sie in die Ruine der Küche, um etwas Essbares zu suchen.
Die Nachmittagssonne schien in den luftigen Thronsaal. Amenemhat verneigte sich vor dem Pharao, eine Geste der Ehrbezeigung, die ihn erhebliche Überwindung kostete. Nicht nur, dass dieses Kind auf dem Thron ihn Stunden hatte warten lassen, nein, überhaupt die Tatsache, dass Iny sich dort rekelte, war zuviel. Am Tage seiner Thronbesteigung hatte Iny den Namen Ramses angenommen, wie die Könige vor ihm – etwas, das Amenemhat ausgesprochen lächerlich fand. Für ihn war der Junge vor ihm bestenfalls eine Karikatur großer Herrscher dieses Namens! Seine Füße ruhten auf einem Schemel, der mit den symbolischen Darstellungen erschlagener Feinde verziert war, ebenfalls ein schlechter Scherz. Der neue Pharao traf keine Anstalten, den ohnehin schon unglücklich genug verlaufenen Feldzug seines Vaters wieder aufzunehmen. Und unterdessen regten sich auch im Süden der Grenzen, in den nubischen Landen, Elemente des Widerspruchs.
„Du magst sprechen, Erster Gottesdiener des Amun!“ befahl der junge König jetzt, in einem Ärgernis erregenden, herablassenden Tonfall.
Amenemhat trat vor den Thron und genoss es einen Moment lang, auf Iny herab zu sehen, ehe er sich auf die Knie niederließ. „Majestät, es wird deinem scharfen Blick nicht entgangen sein, dass die Zahl der Flüchtlinge aus dem Delta beträchtlich zugenommen hat, und dass die Leute hungern, weil das Land nicht genug Ertrag gibt. Nicht genug Ertrag, um noch weitere Hunderte Flüchtlinge vor den Wirren im Delta zu ernähren! Dies war der Grund für die Ungeheuerlichkeit der Entweihung Ipet-Isuts, eine Tat der Gottlosen und der Verzweifelten! Es muss für Ordnung und Frieden gesorgt werden. Ich ersuche dich, schnellstmöglich mit den Truppen ins Delta zurück zu kehren, die Gaufürsten unter dein Szepter zu zwingen, und dann den Libyern Respekt beizubringen, Erhabener Horus!“
Zur Überraschung des
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