Der Skorpion von Ipet-Isut
Ipet-Isut! Welche Frau hätte gewagt, ihn abzuweisen? Er wusste genau, welche Wirkung er auf das weibliche Geschlecht hatte; er vermochte sehr geschickt damit zu spielen. Die Meisten lagen ihm zu Füßen, kaum dass er mit den Fingern schnippte. Nur dieses Fremdländerkind nicht! Egal, was er tat. Sie behandelte ihn wie einen Sklaven – nein, das traf es nicht. Sie behandelte ihn schlimmer, wie ein Nichts! Es geschah sehr selten, dass er glaubte, einen kurzen Augenblick hinter die Maske aus Hass und Abscheu sehen zu können, die sie beständig trug. Ein kurzes Aufblitzen von … etwas Anderem, aber jedes Mal genug, ihn erneut hoffen zu lassen, sie irgendwie und irgendwann zu erreichen, wann auch immer das sein mochte.
Deboras Augen wanderten über die Reliefs an der inneren Wand des Hofes und blieben an einer fein gehämmerten Silhouette hängen, die ihr aus irgendeinem Grund noch nie bisher aufgefallen war. Die Darstellung war ihr vertraut aus den Tagen im Flüchtlingslager. „Ptah…“ murmelte sie.
„Und es erstaunt dich, sein Abbild hier zu finden?“
Sie drehte sich zu der wohlbekannten Stimme um.
„Kahotep sagte, der Herr von Ipet-Isut dulde keine anderen Götter neben Amun.“
„Er ist es, der nichts neben sich und seinem Fanatismus duldet, beinahe wie der Verfluchte Pharao!“
„Ptah ist der Schöpfer der Dinge! Sie wurden Wirklichkeit, weil ER sie beim Namen nannte!“
Amenemhat gestattet sich eines seiner kurzen zweideutigen Lächeln, die sie besonders hasste, weil sie immer glaubte, er mache sich über sie lustig.
„Ptah schuf die Welt. Und wer glaubst du, rief ihn und die übrigen Götter ins Dasein? Was war vor der Welt, die du mit deinen Augen erfassen kannst?“
Sie antwortete nichts. Aber ihre Neugier war spürbar. Dieser Wissensdurst war eines der Dinge, die Amenemhat an ihr bewunderte. Sie ließ sich die verschiedensten Schriften bringen und versuchte sich ohne Hilfe - vor allem, ohne SEINE Hilfe - durch zu beißen. So sehr ihn das oft genug gereizt hatte, möglicherweise war ihre Neugier ein perfekter Platz, den Anker einzuschlagen...
„Am Anfang war das Wasser der Reinheit, das Alles-in-sich-Bergende, die Unfassbarkeit, das Verborgene. Und Amun war eine der acht Kräfte, die dort wirkten. Aus dem Verborgenen ging Ra hervor, die Sonne, aber sie blieb Eins mit dem Verborgenen. Amun-Ra…“
Amenemhat neigte den Kopf, als er den heiligen Namen aussprach.
Ein Anblick, der Debora in seiner Schlichtheit einen Moment lang mit Unbehagen erfüllte, ehe sie ihn mit dem Gipfel der Heuchelei identifizierte. „Und weil Amun-Ra der größte der Götter ist, willst du, dass alle Menschen DIR dienen!“
„Nein.“ Etwas in ihrem Blick veranlasste ihn weiter zu sprechen, trotz seiner wieder kehrenden Verärgerung über ihr Verhalten. „Es geht mir nicht um die Größe der Götter. Amun braucht gewiss nicht MICH, um an Größe zu gewinnen. Es geht mir um Waset, Debora, um Kemet!“
Vom Heiligen See her steigen Ibisse auf. Das Mädchen blickte ihnen nach. Und in Amenemhat formte sich eine Idee. Er hatte ihr noch nie den Blick vom Dach des Pylons gezeigt, den Blick, den die Vögel auf Waset haben mussten! Vielleicht... nahm sie die Schönheit so gefangen, dass sie ihren Hass vergaß... für einen Moment wenigstens. Dass sich der kleine Spalt, den er geöffnet glaubte, etwas weiter auftat...
„Du bewunderst die Ibisse? - Komm, ich will dir zeigen, welchen Blick sie auf Waset haben!“
Er wandte sich einer schmalen Treppe ihr gegenüber zu. Zu seiner Überraschung gewann Deboras Neugier die Oberhand und sie schritt ihm tatsächlich nach. Nach einem anstrengenden Aufstieg durch das dunkle Treppenhaus fand sie sich mit einem atemberaubenden Blick auf Stadt und Tempel unter sich wieder. Ihre Augen wurden groß und staunend.
„Waset und Ipet-Isut zu unseren Füßen. Das Herz Kemets, Debora!“ Er breitete die Arme aus, sah sie an und wiederholte: „Das Herz Kemets. Ich würde nie etwas tun, was dieses Herz zerstören könnte! Sowenig, wie ich etwas tun würde, was... dir wehtut.“
Der Wind verfing sich in ihren Haaren und löste die nur locker eingesteckte Spange. Unwillkürlich streckte Amenemhat die Hand aus um das Schmuckstück aufzufangen und berührte dabei Deboras Hand, die ebenfalls nach oben geschnellt war. Für einen Moment blieben beide stehen wie erstarrt; die Haarspange klirrte auf den Boden. Debora hatte das Gefühl, nicht mehr Herrin über sich selbst zu sein. Wie
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