Der Skorpion von Ipet-Isut
Feigheit verstecken! Es geht Iny um ein Wort von seinem Vater Amun, und ich sorge dafür, dass er der Domäne Amuns und seinen Dienern wieder das Recht verschafft, das ihnen zusteht!“ Er beugte sich zu ihr und küsste sie. „Habe keine Angst! Wenn es der Wunsch der Götter gewesen wäre, mich zu vernichten, hätten sie das bereits getan, Meritamun. Einmal abgesehen davon, Iny und sein Vater haben als Erste den Namen Amuns entweiht durch ihre Taten – oder besser mit dem, was sie nicht getan haben!“
Mit prächtig ausgestattetem Gefolge hatten sich der Pharao und seine Gemahlin zum Tempel des Amun begeben. Trotz des hohen Besuches fehlte noch immer die Beflaggung an den Fahnenmasten der Pylone und auch sonst erwartete Ramses Kargheit.
Der Hofstaat und auch Kiya musste im Vorhof zurückbleiben, während der Pharao von Priestern in Empfang genommen und weitergeleitet wurde. Erwartungsvoll miteinander flüsternd zerstreuten sich Männer und Frauen in kleinen Grüppchen, dabei munkelnd, dass Amenemhat absichtlich die magersten seiner Priester an diesem Tag zur Begrüßung entsandt hatte, um nur ja die betrübliche Situation von Ipet-Isut allen Gästen deutlich zu machen.
Die königliche Gemahlin stand schweigend abseits, nur in Begleitung ihrer Leibdienerin. Voller Besorgnis wartete sie auf das, was geschehen würde. Was Ramses wohl in der Zwiesprache mit seinem göttlichen Vater erfahren würde? Sie war schon beinahe sicher, dass es zu ihren Ungunsten sein würde! Bestimmt war ihr Kind ein Mädchen! Oder sie würde gar eine Fehlgeburt erleiden, so schlecht wie sie sich immer fühlte… Dieser Gedanke erfüllte die junge Frau mit Trauer. Sie konnte Ramses nicht ausstehen, und ihretwillen würde sie nur zu gern den Platz an seiner Seite einer Anderen überlassen. Aber sie empfand zärtliche Liebe für das kleine Leben, das in ihr heranwuchs. Sie wollte es keinesfalls aufgeben!
Im Barkenraum, vor dem Durchgang zum Allerheiligsten, legten die Priester die Geschenke des Königs nieder. Anschließend nahmen sie ranggemäß Aufstellung, schweigend und präzise wie eine Armee und erwarteten den Eintritt ihres Hohenpriesters. Ramses‘ Augen glitten über sie, während er an ihnen vorbei marschierte, fleischgewordene Selbstherrlichkeit, und sie nacheinander demütig den Kopf neigten. Dann stand er vor Amenemhat und zwei schwarze Augenpaare musterten sich einen langen Moment, das eine glühend vor jugendlichem Feuer und Tatendrang, das andere glänzend von eisiger Verachtung. Schließlich trat der Hohepriester zur Seite und senkte das Haupt wie alle anderen in Gegenwart des Königs.
Ramses konnte sich eines gewissen Siegesstolzes nicht erwehren. Was für lächerliche Besorgnis hatte Kahotep wieder gehabt? ER war der Pharao, der Herr, Sohn und Liebling Amuns! Er schritt weiter in das Allerheiligste und richtete den Blick auf den geöffneten Götterschrein. Die Priester zogen sich zurück, überließen den König dem vertrauten Gespräch mit seinem göttlichen Vater. Stellvertretend für die vielen Opfer, die er heute mitgebracht hatte, füllte der junge Ramses ein Stück Weihrauchharz in den Räucherarm.
„Amun, Vater, Herr der beiden Lande, im Lotus Geborener…“
Als der Pharao den Weihrauch entzündete, gab es eine Stichflamme und Qualm stieg auf. Er neigte den Kopf, haspelte den Rest des Lobpreises herunter und stieß dann hastig seine Frage hervor: „Werde ich einen Sohn haben, einen Erben? Neige deine Erhabenheit und deine Weisheit zu mir herab! Sprich!“
Er wiederholte die Frage dreimal und streckte die Arme in einer Geste des Flehens und Empfangens dem Gott entgegen.
Zuerst hallte es wie dumpfes Donnergrollen. Ramses umklammerte den Räucherarm. Furcht kroch in ihm hoch. Das war nicht die Art und Wiese, wie er sich die heilige Zwiesprache vorgestellt hatte! Amuns Augen hatten plötzlich die Farbe geändert. Sie schimmerten blau, dann plötzlich weiß wie glühendes Silber.
„Du tust Unrecht!“
Von überall her schallte die tiefe Stimme.
„Unrecht, hochheiliger Vater?“ fragte der Pharao mit bebender Stimme. „Ich habe meine Hände in den Dienst der Ma’at gestellt und-“
„Unrecht! Mein heiliges Haus ist beraubt! Und du trachtest danach, dich meiner Obhut zu entziehen, Waset zu verlassen! Die heilige Stadt, die ich mir als Thronsitz auserwählt habe!“
Iny kauerte zitternd am Boden und stammelte zusammenhanglose Worte.
„Unheil wird über dich kommen! Unheil wird über das Kind
Weitere Kostenlose Bücher