Der Skorpion
hatte nicht vor, ihn in jener Nacht umzubringen, aber es ist nun mal so, dass ich dem Kerl ein paar Sekunden lang – gerade lange genug – den Tod gewünscht habe.«
Alvarez leistete ihre vierzig Minuten auf dem Crosstrainer ab und beendete ihr Work-out dann mit zwei Runden Gewichte stemmen. Die ganze Zeit über ließ sie sich mit ihren Achtziger-Jahre-Lieblingssongs aus dem iPod berieseln. Kurz nach drei war sie auf einen Joghurt und ein Work-out zur Mittagspause hier aufgetaucht, und als sie ihr Programm bewältigt hatte, war es schon fast vier. An diesem Tag herrschte nicht viel Betrieb; aufgrund des Wetters blieben alle bis auf die Allerengagiertesten lieber zu Hause.
Sie schaltete das Headset aus und kam auf dem Weg zum Umkleideraum an den zu dieser Zeit nur wenig belegten Laufbändern vorbei. Eine Frau las in einer Zeitschrift, doch die anderen auf der Stelle Tretenden hatten den Blick auf einen Fernseher an der Wand gerichtet und liefen schwitzend, mit rasendem Puls und unterschiedlich schnellen Beinbewegungen nirgendwohin.
Auf dem Bildschirm schwatzte Ivor der Idiot höchst angeregt mit einer zierlichen Reporterin in einem blauen Parka. Es schneite, die Flocken fingen sich in Ivors buschigen Augenbrauen und überpuderten die Treppen zum Gerichtsgebäude hinter ihm. Dank des Lärms der Laufbänder verstand Alvarez nicht viel von dem, was er sagte, doch es war nicht wichtig. Sie begriff auch so.
Ihre Laune, ohnehin schon nicht gerade galaktisch, setzte zum Senkrechtsturzflug an. Konnte der Alte nicht einfach den Mund halten?
Nie im Leben. Der alte Mann schwelgt nun mal gern in der Beachtung, die man ihm schenkt.
»Na großartig«, sagte sie leise und passierte auf dem Weg durch den Flur eine Gruppe von halbwüchsigen Jungen, die in der Sporthalle Basketball spielten. Ein Stück weiter stieß sie auf die Step-Aerobic-Gruppe, bestehend aus einer Handvoll Unentwegter, die nach den Anweisungen einer flotten Kursleiterin trainierten.
Alvarez griff nach einem Handtuch und suchte den Umkleideraum auf, wo sie ihre verschwitzten Sportsachen auszog und unter die Dusche ging.
Unablässig dachte sie über den Fall nach.
Er ging ihr unter die Haut wie ein Liebhaber, der sich als Stalker entpuppte. Er ließ sie nachts nicht schlafen, quälte sie am Morgen und den ganzen Tag hindurch, selbst in ihrer Freizeit, wenn sie entspannen oder »Spaß« haben sollte.
Sie seifte sich ein und lachte.
Spaß. Was war das?
Sie war erst dreiunddreißig und konnte sich nicht so recht erinnern, wann sie sich das letzte Mal hatte gehenlassen oder so richtig auf den Putz gehauen hatte. Ihr Beruf war ihr Leben.
Was nicht nur dumm war. Es war armselig.
Sie duschte, rubbelte sich trocken, zog frische Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine Daunenweste an und musterte sich im Spiegel an der Innenseite ihrer Spindtür. Sie war hübsch und durchtrainiert, zweifellos, doch ihre Lippen waren nicht mehr so schnell bereit zu lächeln wie früher einmal, ihr Blick wirkte manchmal gehetzt.
Was war aus dem Mädchen geworden, das früher schimmernden Lippenstift, Kreolen, laute Musik und High Heels geliebt hatte? Aus der Studienanfängerin mit der Idealfigur, passend zu ihrem perfekten Notendurchschnitt?
Ach, die! Weißt du nicht mehr? Die hast du vor fast zwanzig Jahren hinter dir gelassen. Und auf deiner Flucht hast du nicht einen Blick zurück auf deine Familie, deine Freunde oder die bittere Armut in Woodburn, Oregon, geworfen.
Ihr Magen zog sich zusammen, und wieder überkam sie der verrückte Drang, das Kreuzzeichen zu schlagen, ein Brauch, den sie abgelegt und zusammen mit ihren hispanischen Wurzeln der Armut begraben hatte, und mit ihrem Geheimnis … dem schlimmen Geheimnis, das sie bis zum heutigen Tag verfolgte.
Alvarez griff nach ihrer Tasche und schlug die Spindtür zu.
Sie hatte keine Zeit für Erinnerungen oder Fragen zu ihrem dornigen Lebensweg, der hier in Grizzly Falls, Montana, geendet hatte. Weit entfernt von ihren Träumen. Weit entfernt von all ihren Plänen, die heute nicht mehr zählten. Jetzt musste sie sich einfach nur darauf konzentrieren, den Perversen zu fassen, der die ganze Gegend in Angst und Schrecken versetzte.
Das Fitnesscenter war fünfzehn Minuten vom Büro des Sheriffs entfernt. Doch die Fahrt dauerte beinahe eine halbe Stunde, da die Straßen wegen des schlechten Wetters verstopft waren. Mehrere Fahrzeuge standen verlassen am Straßenrand, und durch einen Auffahrunfall zusätzlich
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