Der Sog - Thriller
Nichts für ungut, Pritam, aber etwas in der Bibel zu lesen ist nicht dasselbe, wie es mit eigenen Augen zu sehen.«
Wohl wahr. Gavin Boye hatte keine Idiotin geheiratet.
» Ich habe Indien im Alter von neun Jahren verlassen«, sagte er. » Deshalb erinnere ich mich aus meinen frühen Jahren nicht mehr an allzu viel. Aber meine lebhafteste Erinnerung betrifft ein Ereignis, das etwa ein halbes Jahr vor unserer Abreise stattfand. Wir haben meinen Onkel und meine Tante in ihrem Dorf bei Kivati besucht. Als wir dort ankamen, haben die Männer des Dorfs einen schreienden alten Mann festgehalten und ihm mit einer Zange die Zähne herausgezogen. Wahnsinnig viel Blut. Er war ein Tantra-Priester, der Alte. Ein Mystiker. Er hatte fünfhundert Rupien – etwa fünfzehn Dollar – dafür verlangt, dass er einem jungen Mann den Rat gab, ein Mädchen zu entführen und es der Göttin Durga zu opfern, die ihm dann einen vergrabenen Schatz zeigen würde. Das Mädchen war zwölf. Er schnitt ihr Hände, Füße und Brüste ab. Sie verblutete. Der junge Mann fand seinen Schatz nie und ging zu dem Alten zurück, um sich zu beschweren. Die Polizei hat ihn Gott sei Dank erwischt. Aber dann haben die Dorfbewohner den Alten aufgespürt und ihm die Zähne gezogen, damit er nie wieder die Götter anrufen konnte.«
» Das ist Gewalt unter Menschen, keine Magie«, sagte Laine. » All diese Tode, von denen Nicholas gesprochen hat – menschliche Gewalt. Selbst das hier …« Sie wies mit einem Nicken auf den kopflosen Regenpfeifer auf dem Tisch, und zum ersten Mal sah Pritam ein eindeutiges Gefühl in ihren Augen: Ekel » … selbst das ist nur ein Akt menschlicher Gewalt.«
Sie stand auf und streckte die Hand aus. Er erhob sich und nahm sie. Ihre Haut war trocken und glatt.
» Ich weiß, dass Geister und Magie in Ihrem Glauben erwähnt werden, Pritam. Ich kann nur leider an beides nicht glauben. Falls Sie wieder einmal mit Mr. Close sprechen, wünschen Sie ihm Glück. Ich glaube, er kann es brauchen. Gute Nacht.«
Sie fischte ihren Schirm aus einem Ständer neben der Tür und war einen Moment später verschwunden.
Der Regen dauerte die ganze Nacht über an. In den inneren Vororten wurden Überflutungskanäle durch Äste, Unrat und Schlamm verstopft und liefen über. Ein tief gelegenes Gewerbegebiet in Stones Corner wurde überschwemmt. Ein Teppichgroßhandel und ein Autohof standen unter Wasser, und in der braunen Brühe tanzten Persianer und Mitsubishi Colts.
In den Bäumen steckten Vögel den Kopf unter die Flügel und krallten sich an Äste, als ginge es um ihr Leben. Auf dem Fluss wurden die letzten Fähren eingestellt. In teuren Häusern mit privater Anlegestelle lagen Besitzer, die alt genug waren, um sich an die Flut von 74 zu erinnern, in ihrem Bett, bissen sich auf die Lippen und kämpften gegen das Bedürfnis, ihre Versicherungspolice zu überprüfen.
Pritam reckte das Kinn vor und schloss die Durchgangstür zur eigentlichen Kirche auf. Er drückte einen Schalter, und der lange Raum mit dem hohen Gewölbe tauchte missmutig in Halblicht. Pritam unterdrückte den Drang, nach oben zu blicken und zu sehen, ob der Grüne Mann nicht aus dunklen, unerschrockenen Augen auf ihn hinabstarrte. Stattdessen hielt er den Blick geradeaus gerichtet und setzte sich in die vorderste Bank vor das Bild des gekreuzigten Christus mit dem seltsam üppig bewachsenen Hintergrund, senkte den Kopf und betete für die Seelen vermisster Kinder. Ohne dass er es merkte, glitt er vom Gebet in unruhige Träume.
Er befand sich auf dem Kalvarienberg, aber es gab keine Kreuze auf dem Hügel, dafür Bäume, die nicht in die Landschaft passten. Bei einem war der Stamm gespalten. Er war in der Ritze gefangen, zerschlagen, sterbend. Eleanor Bretherton wies einen reumütigen John Hird an, Pritams Füße, Hände und Kopf abzusägen. » Es ist für Mutter Kali, du fauler, schwarzer Sack«, sagte Hird fröhlich. Niemand hörte Pritam im Schlaf schreien, sein Wimmern hallte durch das Kirchenschiff und wurde von dem teilnahmslosen Prasseln des Regens erstickt.
Laine lag wach und starrte an die Decke, ein Kissen an die Ohren gedrückt, um nicht hören zu müssen, wie Mrs. Boye mit ihrem toten Gatten schimpfte. Obwohl das Gekreische durchsickerte, schweiften Laines Gedanken zu der kalten Steinkirche und jenem toten Vogel auf dem Kaffeetisch. Als sie den Anruf von der Polizei erhalten hatte, dass ihr Mann tot sei und sie gebeten wurde, ihn zu identifizieren, hatte sie es
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