Der Sog - Thriller
kurzem verwitwet. Und diese langgliedrige Vogelscheuche von Mann, Nicholas Close. Hätten sie sich unter anderen Umständen jemals zusammengefunden? Nicholas glaubte es nicht. Und doch fühlten sie sich überraschend wohl miteinander. Auf keinen von ihnen wartete zu Hause jemand. Alle hatten vor nicht langer Zeit einen Menschen verloren, der ihnen nahestand. Traurige und höchst merkwürdige Ereignisse hatten sie zusammengeführt, aber die Gesellschaft der jeweils anderen hatte etwas Erwärmendes. Etwas, das sich leicht und richtig anfühlte, und doch auch sehr zerbrechlich – ein dünnes Seil über einen breiten Abgrund. Alle drei spürten es; keiner wollte das feinmaschige Schweigen durchbrechen, während sie ihren Kaffee schlürften.
Nach der Rückkehr von den Gerlics hatte sich Pritam eifrig die Zeit vertrieben, bis Nicholas kommen würde. Er hatte Johns Zimmer gewischt, seine eigene Einliegerwohnung aufgeräumt, tausend Vorwände gefunden, nicht in die eigentliche Kirche hinüberzugehen. Als es an der Tür des Pfarrhauses klopfte, stand zu seiner Überraschung nicht Nicholas davor, sondern Laine Boye. Sie erklärte, Nicholas habe sie zu dem Treffen eingeladen. Kurz darauf traf Nicholas selbst ein. Pritam machte Kaffee, sie plauderten ein wenig über Belanglosigkeiten, bis sich ein Schweigen auf die Runde senkte, das alle drei als Stichwort auffassten: Es war Zeit für ein ernsthaftes Gespräch.
» Nun denn«, begann Nicholas. » Ein paar Dinge habe ich Pritam bereits erzählt, aber längst nicht alles. Nicht einmal annähernd. Laine, Sie sagten, Gavin habe etwas von einem Vogel erwähnt?«
Bei dem Wort » Vogel« spürte Pritam plötzlich ein Flattern in seinem Bauch, als säße dort tatsächlich einer. Er sah, wie Nicholas zu dem kleinen Kühlschrank ging, die Plastiktüte herauszog und auf dem Kaffeetisch öffnete. Pritams Herz schlug schneller, als er diesen kleinen Körper wieder sah, dem man so viel Gewalt angetan hatte, diese verstörende geflochtene Kugel, die den Kopf ersetzte. Er schielte nach Laines Reaktion auf das verstümmelte Tier, aber ihre grauen Augen waren unerforschlich.
» Zum ersten Mal habe ich einen Vogel wie diesen vier Tage vor dem Mord an Gavins Bruder gesehen«, sagte Nicholas und begann seine Erzählung 1982 mit dem Fund des toten Vogels, und wie er ihn seinem besten Freund Tristram gezeigt hatte. Dann wie Winston Teale sie beide in den Wald gejagt hatte und wie er Tris mit seinem gebrochenen Handgelenk durch einen Tunnel voller Spinnen unter dem alten Wasserrohr verschwinden sah. Wie man Tristrams blutleeren Leichnam meilenweit entfernt unter Blech und Holz gefunden hatte. Teales Geständnis und sein Selbstmord. Jahre später Cates Tod. Sein Sturz auf der Treppe vor der Wohnung in Ealing. Der Geist des Jungen mit dem Schraubenzieher. Dann weitere Geister; traurige, zu endloser Wiederholung verurteilte Geister. Cates Geist. Die Rückkehr aus London in einer regnerischen Nacht wie dieser, als Dylan Thomas verschwand. Elliot Guyatts Geständnis und sein Selbstmord, was auf so unheimliche Weise wie bei Teale ablief. Gavins Nachricht im Morgengrauen mit zwei Schüssen aus einem Gewehr, das die Rune Thurisaz trug – die Rune, die ständig auftauchte und unlösbar mit dem Tod verbunden zu sein schien. Wie er den Geist des kleinen Dylan Thomas in den Wald verfolgte. Die Erdbeeren. Die Wynard. Die alte Frau und ihr Hund Garnock, der kein Hund war. Wie sie ihm einen heruntergeholt hatte. Die archivierten Flugblätter und Zeitungsartikel: so viele verschwundene Kinder, so viele tote Männer. Eleanor Bretherton, die grimmige Gönnerin dieser Kirche und der Näherin Mrs. Quill wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihr Laden, der nun ein Gesundheitskostladen war und die Rune in der Tür trug. Garnocks Angriff auf Suzette, wie er ihr Haare ausgerissen hatte, und wie Nicholas Neffe am Tag darauf krank geworden war. Die merkwürdige Kraft des Halsbands mit dem Sardonyx und den Holunderholzperlen. Und heute: eine Bautafel, ein weiterer Talisman-Vogel und ein Mädchen, das beinahe geraubt worden wäre, wobei Nicholas auf dunkle Weise dazu gedrängt worden war, sie in den düsteren Wald an der Carmichael Road zu bringen.
Seine Geschichte war zu Ende. Unter dem feindseligen Blick von Eleanor Bretherton, die aus ihrer Schwarzweißaufnahme von 1888 starrte, wurde es still im Raum.
Pritam war so erschöpft, als hätte er gerade einen schockierenden Horrorfilm gesehen, von dem er zwar wusste, dass er
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