Der Sog - Thriller
vielleicht anderthalb Kilometer weit, obwohl er nie auch nur ein Drittel davon in ihn gegangen war. Es war einfach zu unheimlich, auch wenn er das vor Tristram nie hätte zugeben können. Selbst jetzt, von außerhalb, spürte er, wie tief der Wald war, als ginge er an einem bodenlosen See mit dunklem Wasser statt an einem Wald vorbei. Letzte Woche hatte er in der Schulbibliothek ein Buch mit dem Titel Das All gefunden, mit einem Kapitel über Pulsare, sterbende rote Riesen und verglühende weiße Zwerge darin … und über schwarze Löcher. Etwas mit so hoher Dichte und so großer Schwerkraft, dass es selbst das Licht aus großer Entfernung anzog, und alles, was ihm zu nahe kam, mit seiner Schwerkraft einfing und nie mehr losließ.
Er merkte, dass er auf die dunklen Stämme starrte, und löste seinen Blick gewaltsam, um sich auf den Kiesweg unter seinen Füßen zu konzentrieren.
Er ging hier, etwa in der Mitte seines drei Kilometer langen Heimwegs von der Schule, immer langsamer. Die Leute ließen alles Mögliche auf dem Kiespfad fallen, und er hatte ein Talent dafür, es zu finden. Zu den kleineren Funden gehörten Murmeln, eine Pinzette, ein halbes Jojo, das Reißband eines SSP-Rennwagens, ein zerrissener Zwei-Dollar-Schein und ein Bleistift, dessen rote Farbe direkt unter dem Radiergummi abgeschabt worden war; jemand hatte mit Kugelschreiber den Namen » Hill« an die Stelle geschrieben. Einmal hatte er eine verrostete Zange aufgehoben, ein Ding mit einer kurzen, alligatorartigen Schnauze, und sie in der Garage sorgfältig mit Maschinenöl gereinigt, das er in einem weißen Kanister unter der alten Werkbank seines Vaters gefunden hatte. Als sie sich leicht öffnen und schließen ließ, hängte er sie an einen Nagel neben Dads anderem Werkzeug. Die Zange machte ihn glücklich und traurig zugleich, deshalb ließ er sie dort.
Nicholas wusste, seiner Mutter war es lieber, wenn er und Suzette den längeren Schulweg durch die adretten, mit Geranien geschmückten Seitenstraßen nahmen, anstatt am Wald vorbei. » Warum?«, fragte er manchmal. » Sei nicht so schwierig«, sagte sie dann, und ein schroffes Schweigen hing zwischen ihnen wie ein Wäschestück, das niemand abgenommen hatte. An den meisten Tagen respektierte er ihre Wünsche. Aber an Tagen wie heute, wenn Suzette nicht dabei war, ging er über die Carmichael Road nach Hause. Die Aussicht auf unbekanntes Treibgut war zu verlockend.
Er verlagerte die Schultasche auf den schmalen Schultern. Sie war heute schwerer als sonst, weil sie ein feuchtes Handtuch und nasse Schwimmsachen enthielt. Ich bin trotzdem ins Wasser gegangen, munterte er sich auf. Aber der Gedanke schwankte am Rand der glatten Rutsche, die zu der furchtbaren Schmach des Morgens zurückführte. Er merkte, wie er die Unterlippe straffte, und seine Augen brannten. Er war auf sich selbst wütend. Heulsuse, sagte er. Memme. Er versuchte, an etwas anderes zu denken – an das neue Space Shuttle, den Kristallschädel von Mitchell-Hedges oder warum Rommel verloren hatte, aber es war zu spät. Seine Gedanken taumelten bereits die rutschige Bahn in jene dunklen Unglücksgewässer hinunter.
Gegen elf Uhr vormittags hatten sich alle Kinder seiner Klasse unter Pandanuspalmen vor den Umkleideräumen des Schulschwimmbads aufgereiht, ihre Schwimmsachen in Plastiktaschen in den Händen oder in Matchbeutel aus Stoff über der Schulter. Nicholas befand sich ziemlich weit vorn in der Schlange, weil sie nach dem Alphabet geordnet war und sein Nachname mit einem C begann. Er gab sich die größte Mühe – wie in jeder Schwimmstunde – zu schrumpfen, unsichtbar zu werden, nicht aufzufallen. Er sah sich nach einer Möglichkeit um, all dem zu entgehen, aber er entdeckte keine. Er fürchtete sich vor den unvermeidlichen Worten, die als Nächstes folgen würden.
Miss Aspinall, die eine Stimme wie Glocken und einen Körper wie ein Medizinball hatte, rief: » Okay, alles setzen.«
Nicholas und seine Klassenkameraden setzten sich.
» Schuhe aus.«
Das leichte Grunzen und Stöhnen von Ferkeln, als die Jungen und Mädchen an ihre Füße griffen.
Es roch nach Chlor und die Umwälzpumpe mahlte laut, als er seinen linken Schuh auszog, den linken Socken, den rechten Schuh … er blickte sich um, und langsam, vorsichtig … den rechten Socken … und da war er.
Ein blasser Zeh von der Größe des zweitkleinsten, der allerdings nicht in einer Reihe mit den andern lag, sondern aus der Oberseite seines Fußes wuchs und
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