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Der Sog - Thriller

Titel: Der Sog - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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der Stille. Strahlend lebendig, mit diesem sehr toten Ding vor ihm. Seine Herzschläge erschienen ihm wie Trommeln, die meilenweit zu hören waren. Er lebte und war klein und entsetzlich allein.
    Und der Wald war nur ein paar Schritte entfernt.
    Er wusste, er musste gehen – sofort. Er trat den Vogel samt seinem seltsam geflochtenen Kopf ins Gras und griff sich seine Schultasche. Er steckte den Arm in die Schleife und verfehlte sie, versuchte es noch einmal und verfehlte erneut. Sein Blickfeld war gesäumt von klebrigen, verschwommenen Sternen. Schließlich fädelte er den Arm durch den Riemen und richtete sich auf, und im selben Moment wurde die Stille durchbrochen.
    Hinter ihm knirschte es im Gras.
    Weit ausholende Sichelbewegungen durch das trockene Gras. Schwere, entschlossene Schritte. Unsichtbar und nahe. Die stehende Luft war plötzlich von einer süßen Fäulnis erfüllt, wie der widerliche Gestank, der über einem alten Faulbehälter schwebt. Scharf und hässlich. Etwas näherte sich hinter ihm. Etwas, das aus dem Wald kam.
    Grellweißes Entsetzen packte ihn. Seine Adrenalindrüse entleerte ihren Saft in sein Blut, und sein Herz galoppierte, seine kleinen Beine spannten sich und schnellten los … Lauf!
    Er floh, ohne sich noch einmal umzusehen.

4
    2007
    Am vierten Morgen nach Nicholas’ Heimkehr aus London hatte es aufgehört zu regnen. Der wolkenlose Morgenhimmel war vom spröden Blau arktischen Eises, und verirrte Winde ließen die Temperatur auf drei Grad sinken. Die Kälte flüsterte sich durch die Holzverkleidung und die losen Schiebefenster von Suzettes Zimmer.
    Als Nicholas erwachte, fühlte er sich so schwungvoll wie lange nicht mehr. Die hängeschultrige Müdigkeit, die immer kurz nach dem Aufwachen kam – wenn er begriff, dass er lebte und Cate tot war und London ein grauer Brei, in dem man unbeirrt seinen Geschäften nachging –, sie stellte sich nicht ein. Er setzte sich auf. Die Sonne war noch nicht über den Horizont gestiegen, aber er sah, dass kalte Winde den Himmel leergefegt hatten, und der Tag schön und strahlend zu werden versprach. So gut, kam ihm zu Bewusstsein, hatte er sich seit Cates Tod nicht mehr gefühlt.
    In dem Wissen, dass ihm dieses delikate Gefühl warmer Neutralität so leicht entgleiten konnte, wie ein diamantschuppiger Fisch in die Tiefen des Meeres zurückschlüpft, beschloss er, das Behagen so gut es ging zu verlängern. Er zog rasch seine Jeans, die Kapuzenjacke und die Socken vom Vortag an. Er würde durch die Straßen seiner Kindheit spazieren und sich Appetit auf ein Frühstück holen.
    Das Haus der Closes in der Lambeth Street 68 war eine Bulldogge von Gebäude, mit beige gestrichenen Seiten aus Schindelbrettern, das auf klumpfüßigen Stelzen ruhte und finster auf seine Nachbarn weiter unten am Hang hinabblickte. Das schmiedeeiserne Tor ging lautlos auf, da die Angelstifte immer noch feucht vom Regen der Nacht waren.
    Nicholas machte sich im frischen Wind auf den Weg. Das Gehen tat gut. Er war groß und schlank; den Hügel hinunterzumarschieren und seinen Kreislauf in Bewegung zu bringen, schien seine ohnehin schon gute Laune noch zu verbessern. Er war fort gewesen, und ja, schreckliche Dinge waren passiert, aber nun war er zu Hause. Neue Möglichkeiten konnten sich auftun. Er konnte wieder auf die Beine kommen. Er konnte sich einen Job suchen. Er konnte von vorn anfangen.
    Auf seinem Spaziergang sah er, dass sein Eindruck vom Vorabend falsch gewesen war: Am Ort seiner Kindheit war die Zeit nicht stehen geblieben. Einige Dinge hatten sich während seiner Abwesenheit sehr wohl verändert. Satzgefüge von alten Queenslander Holzhäusern wurden von unpassenden Villen im Toskanastil interpunktiert. Das Haus der Sheehans war verschwunden und durch einen zweistöckigen Wohnblock ersetzt worden. An der Kreuzung der Lambeth Street und der Crittendon Street hatte man einen winzigen Kreisverkehr errichtet, mit gelb blühenden Verbenen in der Mitte. Aber der größte Teil der alten Häuser war noch da, frisch herausgeputzte Damen, die schüchtern in gepflegten Gärten standen.
    Die Sonne stieg über den Horizont und ließ die Baumwipfel in weichen Goldtönen leuchten. Nicholas atmete tief. Die steife Brise wehte den Duft von Wisteria heran. Das war gut. Das Leben war weitergegangen ohne ihn. Die Dinge änderten sich. Menschen überlebten.
    Er bog in die Myrtle Street ein. Auf halbem Weg duckte sich eine kleine Ladenreihe unter den langen Fingern eines mächtigen

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