Der Sog - Thriller
Flammenbaums.
Nicholas spürte einen Stolperdraht in seinen Eingeweiden schwirren und verlangsamte seinen Schritt. Etwas am Anblick der Läden beunruhigte ihn, und er konnte nicht sagen, was es war. Entschlossen, sich seinen Spaziergang durch nichts verderben zu lassen, nahm er wieder Tempo auf und marschierte auf die Geschäfte zu.
Ein einziges Gebäude beherbergte vier Läden in einer Reihe, die unter einem breiten Baldachin auf die Myrtle Street hinausgingen. Die Fläche unter dem Baldachin lag um einen halben Meter höher; sie war gefliest und ihre Vorderkante wurde durch ein verzinktes Geländer und eine Reihe von skulpturierten Bäumchen in Pflanzkübeln vom Gehsteig getrennt. In seiner Kindheit waren die Läden ein Minisupermarkt, Mrs. Fergusons Obst- und Gemüsehandlung, ein Metzger und ein Kurzwarengeschäft gewesen.
Er blieb vor den zwei Stufen stehen, die zur Ladenfront hinaufführten. Jay Jay’s, fiel ihm ein, hatte das Kurzwarengeschäft geheißen. Wieder surrte der straff gespannte, hinterhältige Draht unangenehm in seinem Innern. Und wieder schüttelte er das schlechte Gefühl ab. Es war noch nicht einmal halb sieben, und die Läden waren geschlossen. Der Minisupermarkt war noch da, aber unter neuem Namen und mit einem Aufkleber im Fenster, der verkündete: » Telefonkarten: 9 Cent/Minute, weltweit!«. Die jüngste Inkarnation des Früchteladens war ein tibetischer Schnellimbiss, dessen Besitzer die Lust der Einheimischen auf ein gutes Kongpo Shaptak eindeutig überschätzt hatten (das Geschäft war nun zu mieten). In den Metzgerladen war ein Reparaturbetrieb für Computer eingezogen; das Kurzwarengeschäft (eine alte Frau hatte es geführt; wie hatte sie gleich noch geheißen? Es fiel ihm nicht ein) war jetzt ein Gesundheitskostladen.
Nicholas’ Schritte hallten auf den kalten Fliesen. Die Ladenfenster waren dunkle Augen, die mürrisch den strahlend schönen Tag außerhalb ihres schweren Lids reflektierten. Quill. Die alte Frau hatte Quill geheißen. Und mit der Erinnerung tauchte ein Bild in seinem Kopf auf … er war acht oder neun Jahre alt gewesen, hatte Suzettes winzige Hand in seiner gehalten und war auf dem Heimweg von der Schule an dem Laden vorbeigegangen; er hatte hineingesehen … und dunkle Augen in einem blassen, verrunzelten Gesicht hatten zurückgeblickt. Dann hatte Suzette zu weinen begonnen.
Nicholas trat ins frühmorgendliche Sonnenlicht hinaus und fühlte eine Spur Erleichterung. Lange her, dachte er. Seine Kindheit sollte noch sehr viel hässlichere Dinge bereithalten als eine hart blickende Frau in einem dunklen Laden. Er beschleunigte seine Schritte wieder.
Laidlaw Street. Madeglass Street. Straßen, die seinen jüngeren Augen so lang und eintönig erschienen waren, wirkten nun eng und anheimelnd. Palisander- und Amberbäume streckten nackte Finger in die frische Luft. Die Blätter von Callistemons und Silbereichen flüsterten gutmütig. Von einer Veranda beobachtete ihn ein Labrador, sein Schwanz klopfte lethargisch auf die Hartholzbretter.
Nicholas steckte die kalten Hände in seine Jackentasche und trat in den schmalen, angenehm schattigen Schlund der Ithaca Lane. Er merkte, dass er nicht auf seine Füße oder ein paar Schritte vorausblickte, sondern zum Scheitel der steilen Straße fünfzig Meter weiter vorn. Er suchte immer den Horizont ab und hielt nach Geistern Ausschau. Aber da waren keine. Keine gebrochenen Geschäftsleute, die vor Lastwagen traten, keine Frauen mit traurigen Augen, die elf, zwölf, dreizehn Pillen schluckten. Er war weit von London und seinen Geistern entfernt – so weit, wie es nur ging, genau genommen. Seine Erinnerung nahm die Witterung von Cate auf, aber er unterdrückte das vertraute Bedürfnis, loszurennen und sich an ihr Grab zu setzen, sondern richtete seine Gedanken darauf, welche Arbeit er anfangen könnte. Requisiten für Fernsehwerbespots besorgen? Kulissen für das Staatstheater bauen? Er könnte bei der Kunstakademie volontieren, bis er sich zurechtgefunden und ein paar Kontakte geknüpft hatte. Himmel, er konnte sogar noch mal an die Universität gehen und seinen Master machen. Er hatte noch Geld auf der Bank, wieso also nicht das Jahr dazu benutzen, etwas Neues anzufangen? Illustration studieren, vielleicht. Ein Kinderbuch schreiben und illustrieren. Die Möglichkeiten freuten ihn und vertrieben das Unbehagen über die Läden an der Myrtle Street aus seinen Gedanken.
Wintersonnenlicht blinkte im kristallenen Tau auf den
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